Anonym - Briefe der Lust
1. KAPITEL
Manchmal denke ich daran, wie es damals war.
Er kam heraus. Ich ging hinein. Wir bewegten uns aneinander vorbei wie Schiffe auf dem Meer, so wie sich jeden Tag die Wege Hunderter von Fremden kreuzen. Der Augenblick dauerte nicht länger, als es brauchte, um einen Schopf dunkler zerzauster Haare und das Funkeln dunkler Augen zu sehen. Als Erstes fielen mir seine Kleider auf, die kakifarbenen Cargohosen und das langärmlige schwarze T-Shirt. Dann bemerkte ich seine Größe und die Breite seiner Schultern. Innerhalb weniger Sekunden wurde ich mir seiner auf jene besondere Weise bewusst, auf die Männer und Frauen einander wahrnehmen, und ich drehte mich auf den Spitzen meiner Kitten Heels um und folgte ihm mit meinem Blick, bis sich die Türen des „Speckled Toad“ hinter ihm schlossen.
„Soll ich warten?“
„Hm?“ Ich sah Kira an, die vor mir gegangen war. „Worauf?“
„Auf dich. Damit du umkehren und hinter dem Kerl herlaufen kannst, wegen dem du jetzt sicher ein steifes Genick hast.“ Sie grinste und zeigte auf die Tür, aber ich konnte ihn durch das Glas nicht mehr sehen.
Ich kannte Kira seit der zehnten Klasse. Damals hatte uns unsere unerwiderte Liebe zu einem älteren Schüler namens Todd Browning verbunden – überhaupt hatten wir eine Menge gemeinsam gehabt. Schreckliche Frisuren, einen schlechten Geschmack, was Kleider betraf, und eine Schwäche für dicke Lidstriche. Wir waren Freundinnen gewesen, aber ich wusste nicht, als was ich sie jetzt bezeichnen sollte.
Ich ging weiter in den Laden hinein. „Halt den Mund. Ich habe ihn kaum bemerkt.“
„Wenn du es sagst.“ Kira neigte dazu, ziellos umherzustreifen. Jetzt ging sie zu einem Regal voller Krimskrams, von dem ich niemals auch nur ein einziges Stück gekauft hätte. Sie hob einen Plüschfrosch hoch, der ein Herz zwischen seinen Beinen hielt. Auf das Herz war mit funkelnden Buchstaben MOM gestickt. „Wie wäre es damit?“
„Schönes Glitzern. Aber aus vielen verschiedenen Gründen kommt es nicht infrage. Ich bin schon fast entschlossen, ihr einen von diesen hier zu kaufen.“ Ich wandte mich einem Regal mit Porzellanclowns zu.
„Himmel. Sie würde jeden einzelnen davon hassen. Ich bin sehr dafür, dass du einen nimmst.“ Kira prustete los, und ich stimmte in ihr Lachen ein.
Ich versuchte, ein Geburtstagsgeschenk für die Frau meines Vaters zu finden. Sie verriet niemals ihr wahres Alter und bestand an jedem ihrer Geburtstage darauf, dass ihr „Neunundzwanzigster“ gefeiert wurde. Das sagte sie stets mit einem neckischen Lächeln und versäumte nie, die Beute einzusammeln. Nichts, das ich kaufen konnte, würde sie beeindrucken, aber dennoch war ich wild entschlossen, das perfekte Geschenk für sie zu besorgen.
„Wenn die Dinger nicht so teuer wären, würde ich darüber nachdenken. Sie sammelt dieses Limoges-Zeug. Wer weiß, vielleicht fährt sie auf einen Keramikclown ab.“ Ich berührte den Schirm einer seiltanzenden Monstrosität.
Kira hatte Stella einige Male getroffen, und beide waren voneinander absolut nicht beeindruckt gewesen. „Ja, gut. Ich sehe mich mal bei den Zeitschriften um.“
Ich murmelte eine Antwort und suchte weiter. Miriam Levy, die Eigentümerin des „Speckled Toad“, führt eine große Auswahl an Dekorationsartikeln, aber deshalb war ich eigentlich nicht da. Ich hätte in jedes Geschäft gehen können, um nach einem Geschenk für Stella zu suchen. Ihr hätte ein Gutschein für ein Nobelkaufhaus wie „Neiman Marcus“ gefallen, obwohl sie natürlich über die Summe, die ich mir leisten konnte, die Nase gerümpft hätte. Ich war nicht wegen der Porzellanclowns in Miriams Laden gekommen, und auch nicht, weil es nur einen halben Block vom Riverview Manor entfernt lag, wo ich wohnte.
Nein, ich war wegen des Papiers in Miriams Laden gekommen.
Pergament, handgearbeitete Grußkarten, Notizbücher, Blöcke mit exquisitem, zartem Papier, so dünn wie Seide, Bögen, die für das Beschreiben mit Füllfederhaltern gedacht waren, und fester Karton, der so gut wie alles aushalten konnte. Papier in allen Farben und Größen, jedes auf seine ganz eigene Art perfekt, wie geschaffen für Liebesbriefe und Trennungsnachrichten, Kondolenzschreiben und Gedichte. Und nirgendwo war auch nur eine einzige Schachtel mit schlichtem weißem Druckerpapier zu finden. Etwas so Primitives bot Miriam in ihrem Geschäft nicht an.
Ich habe eine Art Schreibwaren-Fetisch. Ich sammle Papier, Stifte, Karten. Setzt man mich
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