Ansichten Eines Clowns
Nummer. Ich war in der rechten
Laune, mich mit ihm am Telefon zu unterhalten. Mir fiel ein, daß ich ihn später noch
bei einem jour fixe zu Hause getroffen, er mich flehend und kopfschüttelnd angesehen hatte, während er sich mit einem Rabbiner über »jüdische Geistigkeit« unterhielt. Mir tat der Rabbiner leid. Er war ein sehr alter Mann, mit weißem Bart und sehr gütig und auf eine Weise harmlos, die mich beunruhigte. Natürlich erzählte Herbert jedem, den er kennenlernte, daß er Nazi und Antisemit gewesen sei, daß die
»Geschichte ihm aber die Augen geöffnet« habe. Dabei hatte er noch am Tag, bevor die Amerikaner in Bonn einmarschierten, mit den Jungen in unserem Park geübt und ihnen gesagt : »Wenn ihr das erste Judenschwein seht, dann drauf mit dem Ding.« Was mich an diesen joursfixes bei meiner Mutter aufregte, war die Harmlosigkeit der zurückgekehrten Emigranten. Sie waren so gerührt von all der Reue und den laut hinausposaunten Bekenntnissen zur Demokratie, daß es dauernd zu Verbrüderungen und Umarmungen kam. Sie begriffen nicht, daß das Geheimnis des Schreckens im Detail liegt. Große Sachen zu bereuen ist ja kinderleicht: Politische Irrtümer, Ehebruch, Mord, Antisemitismus - aber wer verzeiht einem, wer versteht die Details ? Wie Brühl und Herbert Kalick meinen Vater angesehen hatten, als er mir die Hand auf die Schulter legte, und wie Herbert Kalick, außer sich vor Wut, mit den Knöcheln auf unseren Tisch schlug, mit seinen toten Augen mich ansah und sagte: »Härte, unerbittliche Härte«, oder wie er Götz Buchel am Kragen packte, ihn vor die Oberklasse stellte, obwohl der Lehrer leise protestierte, und sagte: »Seht euch den an
wenn das kein Jude ist!«Ich habe zuviel Augenblicke im Kopf, zuviel Details, Winzigkeiten - und Herberts Augen haben sich nicht geändert. Mir wurde bange, als ich ihn da bei dem alten, etwas dummen Rabbiner stehen sah, der so versöhnlich gestimmt war, sich von Herbert einen Cocktail holen und etwas über jüdische Gei- stigkeit vorschwätzen ließ. Die Emigranten wissen auch nicht, daß nur wenige Nazis an die Front geschickt wurden, gefallen sind fast nur die anderen, Hubert
Knieps, der im Haus neben Wienekens wohnte, und Günther Cremer, der
Sohn des Bäckers, sie wurden, obwohl sie Hitlerjugendführer waren, an die Front geschickt, weil sie »politisch nicht spurten«, die ganze ekelhafte Schnüffelei nicht mitmachten. Kalick wäre nie an die Front geschickt worden, der spurte, so wie er heute spurt. Er ist der geborene Spurer. Die Sache war ja ganz anders, als die Emigranten glauben. Sie können natürlich nur in Kategorien wie schuldig, nicht schuldig -Nazis, Nichtnazis denken.
Der Kreisleiter Kierenhahn kam manchmal zu Maries Vater in den Laden, nahm sich einfach ein Paket Zigaretten aus der Schublade, ohne Marken oder Geld hinzulegen, steckte sich eine Zigarette an, setzte sich vor Maries Vater auf die Theke und sagte:
»Na, Martin, wie wär's, wenn wir dich in ein nettes, kleines, nicht ganz so grausames KZ-chen steckten?« Dann sagte Maries Vater: »Schwein bleibt Schwein, und du bist immer eins gewesen.« Die beiden kannten sich schon seit ihrem sechsten Lebensjahr. Kierenhahn wurde wütend und sagte: »Martin, treib's nicht zu weit, übertreib's nicht.« Maries Vater sagte: »Ich treib's noch weiter: mach, daß du wegkommst.« Kierenhahn sagte: »Ich werde dafür sorgen, daß du nicht in ein nettes, sondern in ein übles KZ kommst.« So ging das hin und her, und Maries Vater wäre abgeholt worden, wenn nicht der Gauleiter seine »schützende Hand« über ihn gehalten hätte, aus einem Grund, den wir nie herausbekamen. Er hielt natürlich nicht seine schützende Hand über alle, nicht über den Lederhändler Marx und den Kommunisten Krupe. Sie wurden ermordet. Und dem Gauleiter geht es ganz gut heute, er hat sein Baugeschäft. Als Marie ihn eines Tages traf, sagte er, er »könne nicht klagen«. Maries Vater sagte mir immer: »Wie schrecklich diese Nazigeschichte war, kannst du nur ermessen, wenn du dir vorstellst, daß ich so einem Schwein wie dem Gauleiter tatsächlich mein Leben verdanke, und daß ich auch noch schriftlich bescheinigen muß, daß ich es ihm verdanke.«
Ich hatte Kalicks Nummer inzwischen gefunden, zögerte noch, sie zu wählen. Es
fixe war. Ich könnte hingehen, mir wenigstens vom Geld meiner Eltern die Taschen voll Zigaretten und Salzmandeln stecken, eine Tüte für Oliven mitnehmen, eine zweite für Käsegebäck,
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