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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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mit Honig drin, Mutter - mit neckisch erhobenem Zeigefinger drohend - gab mir sogar eine Zigarette, und irgendwo im Hintergrund spielte Leo seine Etüden, während wir alle, auch die Mädchen, wußten, daß Vater bei »diesem Weib« war. Irgendwie muß Marie von diesen »Lügen« erfahren haben, denn sie sah mich immer zweifelnd an, wenn ich ihr etwas erzählte, und diesen Jungen in Osnabrück habe ich sogar wirklich gesehen. Manchmal ergeht es mir auch umgekehrt: daß mir das, was ich wirklich erlebt habe, als unwahr und nicht real erscheint. Wie die Tatsache, daß ich damals von Köln aus nach Bonn zu Maries Jugendgruppe fuhr, um mit den Mädchen über die Jungfrau Maria zu sprechen. Das, was andere nonfiction nennen, kommt mir sehr fiktiv vor.

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    Ich trat vom Fenster zurück, gab die Hoffnung auf meine Mark da unten im Dreck auf, ging in die Küche, mir noch ein Butterbrot zu machen. Sehr viel Eßbares war nicht mehr da: noch eine Büchse Bohnen, eine Büchse Pflaumen (ich mag Pflaumen nicht, aber das konnte Monika nicht wissen), ein halbes Brot, eine halbe Flasche Milch, etwa ein Viertel Kaffee, fünf Eier, drei Scheiben Speck und eine Tube Senf. In der Dose auf dem Tisch im Wohnzimmer waren noch vier Zigaretten. Ich fühlte mich so elend, daß ich die Hoffnung aufgab, je wieder trainieren zu können. Mein Knie war so dick geschwollen, daß die Hose schon knapp zu werden begann, die Kopfschmerzen so heftig, daß sie fast schon überirdisch wurden: ein dauernder bohrender Schmerz, in meiner Seele war's schwärzer denn je, dann das »fleischliche Verlangen« -und Marie in Rom. Ich brauchte sie, ihre Haut, ihre Hände auf meiner Brust. Ich habe, wie Sommerwild es einmal ausdrückte, »ein waches und wahres Verhältnis zur körperlichen Schönheit«, und habe gern hübsche Frauen um mich, wie meine Nachbarin, Frau Grebsel, aber ich spüre kein »fleischliches Verlangen« nach diesen Frauen, und die meisten Frauen sind darüber gekränkt, obwohl sie, wenn ich es spürte und zu stillen verlangte, sicher nach der Polizei rufen würden. Es ist eine komplizierte und grausame Geschichte, dieses fleischliche Verlangen, für nicht monogame Männer wahrscheinlich eine ständige Tortur, für monogame wie mich ein ständiger Zwang zur latenten Unhöflichkeit, die meisten Frauen sind irgendwie gekränkt, wenn sie das, was ihnen als Eros bekannt ist, nicht spüren. Auch Frau Blothert, bieder, fromm, war immer ein bißchen beleidigt. Manchmal verstehe ich so- gar die Unholde, über die soviel in den Zeitungen steht, und wenn ich mir vorstelle, daß es so etwas wie »eheliche Pflicht« gibt, wird mir bange. Es muß ja in diesen Ehen unhold zugehen, wenn eine Frau von Staat und Kirche zu dieser Sache
    vertraglich verpflichtet ist. Man kann ja Barmherzigkeit nicht vorschreiben. Ich wollte versuchen, mit dem Papst auch darüber zu sprechen. Er wird bestimmt falsch informiert. Ich machte mir noch ein Butterbrot, ging in die Diele und nahm aus meiner Manteltasche die Abendzeitung heraus, die ich in Köln vom Zug aus gekauft hatte. Manchmal hilft die Abendzeitung : sie macht mich so leer wie das Fernsehen. Ich blät- terte sie durch, überflog die Schlagzeilen, bis ich eine Notiz entdeckte, über die ich lachen mußte. Bundesverdienstkreuz für Dr. Herbert Kalick. Kalick war der Junge gewesen, der mich angezeigt hatte wegen Defätismus und während der Ge- richtsverhandlung auf Härte, unerbittlicher Härte bestanden hatte. Er hatte damals den genialen Einfall gehabt, das Waisenhaus für den Endkampf zu mobilisieren. Ich wußte, daß er ein hohes Tier geworden war. In der Abendzeitung stand, er habe das Bundesverdienstkreuz bekommen wegen »seiner Verdienste um die Verbreitung des demokratischen Gedankens in der Jugend«.
    Er hatte mich vor zwei Jahren einmal eingeladen, um sich mit mir zu versöhnen. Sollte ich ihm etwa verzeihen, daß Georg, der Waisenjunge, beim Üben mit einer Panzerfaust tödlich verunglückt war - oder daß er mich, einen Zehnjährigen, wegen Defätismus angezeigt und auf Härte, unnachgiebiger Härte bestanden hatte? Marie meinte, eine Einladung zur Versöhnung könne man nicht ablehnen, und wir hatten Blumen gekauft und waren hingefahren. Er hatte eine hübsche Villa, fast schon in der Eifel, eine hübsche Frau und das, was die beiden stolz »ein Kinder« nennen. Seine Frau ist auf jene Art hübsch, daß man nicht weiß, ob sie lebendig ist oder nur aufgezogen. Ich war die ganze Zeit über, während ich

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