Artefakt
gehörten zu den Hohen Mächten, mit vollem Zugang zu dem Jahrmilliarden alten Wissen, das fast bis in die Zeit des Urknalls reichte?
Rahils Herz schlug noch etwas schneller, als ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und so viel Platz einnahmen, dass für die anderen, vor denen er sich fürchtete, kein Platz mehr blieb. Dies ist richtig, dachte er. Dies lenkt ab, bis ich meine Erinnerungen wieder unter Kontrolle habe. Er wies seine inzwischen programmierbar gewordenen Femtomaschinen an, ihm einen direkten Zugang zum Lied zu ermöglichen, und nur eine Sekunde später hallten ätherische Klänge durch die wachsenden Gewölbe seines Bewusstseins.
»Ein direkter Kontakt ist gefährlich«, warnte der Kurator.
Rahil achtete nicht darauf. Darum geht es seit fast sechshundert Jahren, dachte er, beobachtete mit den Sensoraugen der Station das blühende Fraktal des Kickouts und hörte das von den Femtomaschinen übertragene Lied. Darum ging es seit dem Ereignis und der Gründung der Ägide. Um ein kosmisches Lied, das alle hören konnten, die richtigen Instrumente vorausgesetzt; doch nur die Hohen Mächte verstanden die Botschaft in ihren Tönen. Als Rahil zur Ägide gekommen war, kurz nach Jazmines Tod – nicht daran denken! –, hatte es sein Instruktor folgendermaßen ausgedrückt:
»Denk an die Bibliothek von Vandar, Rahil. Wir sind durch ihre virtuellen Säle gewandert, erinnerst du dich?«
»Wie könnte ich das vergessen?«, erwiderte Rahil, der Schmerz frisch in ihm, die Wunde in seiner Seele noch offen. »Die berühmte Bibliothek der sekundären Hosprit, entstanden zu einer Zeit, als sie noch nicht zu den Hohen Mächten gehörten. Ein großer Teil der in ihr lagernden Informationen ist analoger Natur.«
Der Instruktor, ein vogelartiger Chormiki, nickte und klapperte kurz mit dem rudimentären Schnabel. »Bevor sie zu den Hohen aufstiegen, unternahmen die Hosprit weite Reisen durch unsere Galaxis, besuchten fremde Völker, primitive ebenso wie hoch entwickelte, und sammelten Informationen aller Art: Geschriebenes, in Stein geritzt, auf Holz gemalt und auf Papier gedruckt, Worte und Bilder, in magnetischen Speichern, Kristallen und quantenmechanischen Gittern abgelegt. Sie wollten das › Wissen des Lebens ‹ zusammentragen und bewahren.«
»Damals wussten sie noch nichts von der Enzyklopädie«, sagte der junge Rahil.
»Nein. Sie erfuhren erst davon, als sie ihre Bibliothek gebaut hatten. Wie groß ist sie, Rahil?«
»Sie bedeckt einen ganzen Kontinent auf Vandar. Manche Gebäudeteile sind so hoch, dass sich unter ihren Dächern Wolken bilden. In einigen Flügeln mussten Wetterkontrollen installiert werden.«
»Die Bibliothek von Vandar ist die größte analog-digitale Bibliothek in dieser Galaxis«, sagte der Instruktor. »Wie viele Bücher gibt es in ihr, Rahil?«
Er blies die Wangen auf. »Viele. Ich meine, wirklich viele . Vermutlich Milliarden. Es dürften mehr Bücher sein, als es früher Menschen auf der Erde gab, vor dem Ereignis .«
»Es gibt dort mehr Bücher als damals im ganzen Sol-System, zu seiner besten Zeit. Von den übrigen analogen und auch den digitalen Datenträgern ganz zu schweigen. Stell dir jetzt einen Buchstaben in einem der dicksten Bücher der Bibliothek von Vandar vor.«
Rahil nickte. »Ja«.
»Welchen Buchstaben stellst du dir vor?«, fragte der Instruktor.
»Ein J«, sagte der junge Rahil und dachte, von Schatten und Schmerz begleitet: J wie Jazmine.
»Stell dir nun ein Farbpigment dieses Buchstabens vor.«
»Ein einzelnes Pigment, ja.«
»Und jetzt stell dir ein Atom dieses Pigments vor, und die Quanten in diesem Atom, und die Strings unter ihnen. Denkst du an sie, Rahil?«
»Ja«, sagte er. »Ich denke an sie.« Aber er dachte auch an Jazmine und seine Schuld.
»Denk jetzt an ein Fraktal, wie die Kickouts der Leskovar«, sagte der Instruktor. Seine Federn raschelten. »Stell dir vor, dass die Bibliothek von Vandar tausendmal in einen solchen String passt, den du gerade vor deinem inneren Auge gesehen hast, und stell dir weiter vor, dass sich dieses Muster aus Bibliothek, dickstem Buch, Buchstabe, Pigment, Atom, Quanten und String tausendmal innerhalb des einen Strings wiederholt. Wie viele Bibliotheken würde ein einzelner Buchstabe des dicksten Buches enthalten?«
Der junge Rahil zögerte. »Ich weiß nicht, ob es eine Zahl gibt, die dafür groß genug ist.«
Der Instruktor nickte bedächtig. »Das ist die Kosmische Enzyklopädie der Hohen Mächte«, sagte er.
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