Mörder Quote
KAPITEL 1
Tanya schaltete das grelle Neonlicht in ihrer Garderobe ein und schob todesmutig ihr Gesicht näher an den Spiegel. Da waren sie. Drei kleine Falten unter dem linken Auge. Noch sehr klein, noch nicht tief, aber unübersehbar. Es war so weit.
Seufzend ließ sie sich in ihren Schminkstuhl zurückfallen und betrachtete sich. Sonst noch alles gut – eine blonde Frau mit perfektem Haar, perfekter Figur und perfekten Zähnen schaute kritisch zurück. Ehemaliges Model, eindeutig eine Schönheit. Offiziell 35. In Wahrheit 41. Und ab heute offiziell faltig. Es war zum Mäusemelken.
Tanya goss sich ein Glas stilles Wasser ein und versuchte sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Heute war der erste Liveshow-Tag der siebten Staffel der Hit- TV -Show Music Star 3000 , wie immer mit ihr, Tanya Beck in der Jury. »Deutschlands immer noch aufregendste Blondine«, wie die BILD nicht aufhörte zu betonen.
Als ob die Zeitung ihren baldigen dramatischen Fall aus dieser Kategorie schon jetzt vorbereiten würde. Und sie würden sich nicht lange gedulden müssen, falls aus den Faltenspuren tiefere Gräben würden. Es sei denn, sie ging freiwillig, wie sie es sich eigentlich schon letztes Jahr vorgenommen hatte, ehe sie sich doch noch einmal überreden hatte lassen – eine Staffel mehr, eine Runde mehr auf diesem bekloppten, schrill-bunten Karussell, für das gute Geld, für den Ruhm, die Annehmlichkeiten, den besten Tisch im Restaurant, die Freikarten zu den Veranstaltungen, das Gefühl, wer zu sein.
Warum auch nicht?
Sie warf einen letzten strengen Blick in den Spiegel. Darum nicht!
Weil sie es schon lange müde war und man das jetzt immer deutlicher sehen konnte. Weil Veranstaltungen, beste Tische und Freikarten sie schon lange nicht mehr interessierten. Weil sie genug Geld hatte – und weil sie auch ohne Kameras jemand war. Das hoffte sie jedenfalls jeden Tag.
Tanya seufzte und griff nach den Unterlagen der neuen Staffel, sorgfältig aufbereitet von all den fleißigen, unbezahlten Medienpraktikanten, die Jahr für Jahr aufs Neue leicht panisch durch die Studiogänge schwirrten wie frisch gewaschene Dackel.
Die zehn Folder enthielten jeweils ein großes Foto von dem Kandidaten und eine sehr kurze Zusammenfassung seines bisherigen Lebens. Die Zusammenfassungen waren deswegen sehr kurz, weil erstens die meisten Teilnehmer einer TV -Gesangs-Castingshow in ihrem Leben noch nicht viel erlebt hatten und zweitens die Autoren der Show schon im Vorfeld festlegten, welche Rolle der oder die Einzelne auf der Bühne der jeweiligen Staffel einnehmen würde.
Manchmal konnte man sogar anhand der Texte spüren, wer ein möglicher Gewinner sein würde – oder wen die Autoren der Sendung auf jeden Fall so sahen. Vor zwei Staffeln war es sonnenklar gewesen: »Der charmante 20-Jährige aus Minden jobbt neben seinem Hauptberuf als Step-Aerobic-Lehrer noch in einem Heim für krebskranke Kinder, wo er auch die Theatergruppe leitet und mit selbstkomponierter Musik versorgt.« Spätestens nach der Weihnachtsfolge, mit all den todkranken Kindern im Publikum, war die Sache entschieden gewesen.
Dieses Jahr war es schwieriger. Schon bei den sogenannten »Vorrunden« hatte Tanya niemanden gesehen, der ihr auf Anhieb wie ein Gewinner oder eine Gewinnerin vorkam. Aber vielleicht war sie dieses Mal auch schon viel zu angeekelt gewesen von den endlosen Provinz-Turnhallen, dem Geruch von Angst und Pickelcreme, den Sprüchen ihrer Mitjuroren und den vielen Bekloppten, die in den letzten Jahren immer länger abgefilmt wurden als die normal begabten oder einfach nur netten Kids.
Der Hang dieses TV -Karussells zur Geisterbahn war unübersehbar – und so auch in den Bildern und Leben deutlich zu erkennen, die jetzt vor ihr lagen:
Zehn junge Leben voller Träume und voller Hoffnung auf das Preisgeld von 100.000 Euro und den Plattenvertrag. Zehn junge Menschen, die der nächste Michael Jackson oder die nächste Madonna werden wollten und nun die Chance bekamen auf die nächste Kelly Clarkson oder den nächsten Mark Medlock (nicht zynisch werden, dachte Tanya, sonst stehst du die Staffel nicht durch. Deine letzte!). Zehn mögliche Superstars von morgen – oder wie sie es jetzt eigentlich schon in- und auswendig konnte:
– Die Schlampe
– Die Türkin
– Der Engel
– Die Transe
– Die Teufelin
– Der Schwiegersohn
– Der Schwule
– Der Rocker
– Der Verbrecher
– Der Freak
Lauter nette junge Leute.
Besonders den Freak dieser
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