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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Eltern und sieben Verwandte ihrer Herkunft, ihres Namens wegen umgebracht hatte. Nach all den Toten konnte dort doch nichts wieder werden, wie es war.
    Gemeinsam mit einem Freund aus Pernambuco begann Senhor Herzfeld mit Leder, Edelhölzern, Achaten und den vielen Rohstoffen seiner neuen Heimat zu handeln und konnte so an einem Nachmittag im August mit einem Smaragdring in der Faust auf einem Pier in Rio de Janeiro mit klopfendem Herzen zusehen, wie ein Mädchen aus Deutschland über das Fallreep eines aus Hamburg ausgelaufenen Transatlantikliners herabschritt. Als er dieses Mädchen dann auf dem Pier nach vier Jahren zum erstenmal wieder in seinen Armen hielt und auch nicht losließ, als er das feine Klingen des Smaragdringes hörte, der ihm aus der geöffneten Faust gefallen war, glaubte er zu wissen, daß es in seinem Leben keinen glücklicheren Moment mehr geben konnte.
    Ich hatte den Teller gekochter Araukarienkerne zu einem und noch einem Glas Zuckerrohrschnaps leergegessen, und Herzfeld erzählte – von den seltsamen, labyrinthischen Mustern auf den breiten Krawatten seines Vaters, der niemals eine Synagoge betreten hatte, aber Sonntag für Sonntag mit diesen Labyrinthen geschmückt zur Kirche gegangen war; erzählte von den Händen seiner Mutter, die, wenn sie stillsaß, stets weiß wurden, schneeweiß, aber niemals kalt, und erzählte vom winzigen Fuß einer Porzellantänzerin mit roten Schuhen, dem Bruchstück einer Figur aus Meißen, das er jahrelang als Talisman mit sich herumgetragen und erst nach seiner Hochzeit bei Santos ins Meer geworfen hatte – ein Polizist in Zivil hatte diese Tänzerin in der Wohnung seiner Eltern bei der Verhaftung des Vaters zerschlagen … und erzählte, bis auf dem Gartenfest Lampions angezündet wurden und ein Gast nach dem anderen sich in den Abend und in die Nacht verabschiedete. Als Herzfelds Frau, das Mädchen aus Deutschland, zum Aufbruch drängte, weil zu Hause ein Hund und zwei hungrige Katzen warteten, bot er mir an, ihn am nächsten Tag in seinem Büro im Stadtteil Higienópolis zu besuchen. Dort wollte er weitererzählen, ich sollte dort weiterschreiben.
    Und Herzfeld erzählte am nächsten Tag in einem dunklen, mit Quarzen und geschliffenen Achaten, Amethysten, glitzernden Drusen und den schönsten Schmucksteinen Brasiliens dekorierten Büro tatsächlich weiter, bis auch dieser Tag zu Ende ging, ohne daß er je in der Gegenwart ankam. Es war bereits dunkel, als er mir anbot, unser Gespräch doch in seinem Sommerhaus in Minas Gerais weiterzuführen, in dem er die kommenden, in São Paulo unerträglich heißen Tage verbringen werde. Sein Schwiegersohn wolle ihn schon übermorgen dort besuchen und könne mich in seinem Wagen mitnehmen.
    Aber als am Morgen der geplanten Abfahrt das Telefon in meinem Hotelzimmer klingelte, machte dieser Schwiegersohn eine rätselhaft lange Pause nach der Nennung seines Namens und sagte dann, daß Herzfeld in der Nacht in seinem Sommerhaus gestorben sei. Er und seine Frau suchten gerade in den Kleiderschränken des Verstorbenen nach einem Anzug für das Grab, um dann nach Minas zu fahren. Herzfeld werde dort noch vor Sonnenuntergang bestattet.
    Der Schwiegersohn, auch er ein Gast auf dem Gartenfest, das plötzlich weit, weit zurückzuliegen schien, war weder erstaunt noch stellte er Fragen, als ich ihn bat, mich wie vereinbart mitzunehmen, und so fuhren wir in einem schwarzen Jeep aus der Stadt und dann stundenlang über die Dörfer, während Herzfelds Tochter das Leben ihres Vaters endlich in die Gegenwart führte, als sie von seiner Angst vor den Tropen sprach, die ihn trotz seiner Geschäfte mit Waren aus Bahia, Amazonas, Mato Grosso oder Alagoas daran gehindert hatte, jemals auch nur einen einzigen Schritt über die geographische Breite von Rio de Janeiro hinaus in den tropischen Norden zu tun. Wir hatten auf dieser Fahrt nach Minas auch einen Auftrag von Herzfelds Frau zu erfüllen: Einen Sarg sollten wir unterwegs besorgen, im Dorf gab es keinen Schreiner. Und so hielten wir an einem der Läden, vor denen in vielen Dörfern unterwegs Särge in allen Farben, Holzarten und Ausstattungen entlang der Straße zur Schau gestellt waren.
    Der Schreiner, er versah auch den Dienst eines Bestatters, trug einen Arm in der Schlinge, die Hand in einem dicken, blutigen Verband: Er habe sich an diesem Morgen beim Reinigen seines Revolvers in die Hand geschossen und könne uns zwar jeden Sarg verkaufen und uns auch zu dem Verstorbenen

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