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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Wasser des Gelben Meeres tauchte, während er mit seinen Schwanzschlägen die Dünen der Wüste Gobi zu Sandstürmen hochpeitschte.
    Wanli
, sagte Mr. Fox, der chinesische Ausdruck für die Länge der Großen Mauer, bedeute ja nach einer alten Maßeinheit, die unter jeder Dynastie anders definiert worden war und ebenso für dreihundert wie für knapp sechshundert Meter stehen konnte, nicht nur
zehntausend Li
,
sondern
Li
war auch ein Zeichen für das Unendliche, das Unvorstellbare, eine zehntausend Li lange Mauer also
zehntausendmal unvorstellbar
lang.
    Natürlich habe es immer Streit darüber gegeben, wieviel denn die in Kilometern gemessene Mauerlänge genau betrage, ob dabei diese oder nur jene Bauperiode zu berücksichtigen sei und etwa Gebirge, Ströme und Seen, die als natürliche Barrieren sozusagen in die Wanli Chang Cheng eingebaut worden waren, mitgemessen werden durften oder nicht, aber das sei für ihn ohne Bedeutung. Er folge den Gesängen der Vögel entlang der Linie des Großen Drachen, der je nach Dynastie, Thronfolgen und Kriegsverläufen einmal dahin und dann wieder dorthin gekrochen war. Und diese Linie war fast neuntausend Kilometer lang.
    Whiskey? Wollte ich einen Schluck? Fox ging nie auf die Mauer ohne einen Flachmann mit irischem Whiskey. Der irische, der aus der Republik, aus dem Süden, nicht der aus dem bombengefährlichen Norden, sei der mildeste und ihm liebste.
    Genaugenommen war das alles ja eine Idee seiner Frau gewesen. Er hatte sie, das war vor fast dreißig Jahren, in die Provinz Ningxia begleitet. Die Mauer verlief dort immer wieder durch ziemlich trostlose Gebiete, Industriezonen, Raffinerien und entlang dampfender Mülldeponien. Aber ausgerechnet in Ningxia hatte ein Vogel,
Turdus mandarinus
, die Chinesische Amsel, so betörend schön gesungen, daß sie beide wie verzaubert gewesen waren und er an seinen Vater denken mußte, der oft mit seiner Stirnlampe unter den Bäumen Swanseas gesessen und fieberhaft versucht hatte, rasende Melodien auf Notenpapier mitzuschreiben, wenn eine Nachtigall oder eine Amsel in der Dunkelheit zu singen begann. Sein Vater hatte die diatonischen Intervalle, die Dreiklangmotive und chromatischen Tonreihen beispielsweise des Amselgesangs dann in seine Kompositionen für Blasmusik eingearbeitet.
    Dabei dienten die Lieder der Singvögel doch nicht bloß der Liebe und der Erhaltung der Art, sondern waren weit mehr noch
Reviergesang
und mußten durch ihre weithin hörbare Lautstärke, ihre Vielfalt, Virtuosität, einen Rivalen entweder auf Abstand halten oder ihn in die Flucht schlagen. Na ja, das hatte die Blasmusik seines Vaters in gewisser Weise ja wohl auch getan. Amseln konnten jedenfalls etwa ein Dutzend anderer Vogelstimmen, selbst Geräusche aus der Menschenwelt nachahmen, das Weinen eines Kleinkinds, ferne Motoren, Gelächter, Sirenengeheul … und
besangen
so ihre
Reichsgrenzen
, als ob sie damit gleichzeitig alle Plumpheit, Erdgebundenheit und jeden verspotteten, der nicht das unbeschreibliche Glück hatte, ein engelgleich gefiedertes, engelgleich singendes Wesen zu sein, das die Freiheit genoß, sich jederzeit in die Luft zu erheben oder sich von höchsten Türmen, Bäumen und Klippen in die Tiefe zu stürzen, im Fallen die Schwingen auszubreiten, plötzlich zu schweben und sich vom Aufwind zurücktragen zu lassen in den Himmel.
    Er und seine Frau hatten damals in Ningxia gebannt gelauscht, und dann hatte sie mit einem Blick auf einen von dichtem Buschwerk überwachsenen Rest der Großen Mauer gesagt: Gesang. Das wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Reviergesang statt zinnenbewehrter Mauern!, Tonfolgen anstelle von Steinen, Grenzgesänge!
    Gemeinsam hatten sie sich vorgestellt, diese unvorstellbar lange Mauer durch einen einzigen, aus lückenlos aneinandergereihten Reviergesängen bestehenden Chor zu ersetzen: einen Wall aus Liedern, zart und glasrein die einen, verspielt, trällernd die anderen, alle aber Sequenzen einer unüberhörbaren, unüberwindlichen Melodie, die jeden Eindringling oder Angreifer entweder so überwältigen mußte, daß er bang das Weite suchte – oder so betörte, daß er seine Gier, seinen Haß oder seine Kampflust vergaß und zu nichts anderem mehr fähig war, als hingerissen zu lauschen.
    Was für eine Vorstellung, sagte Mr. Fox, den unter den Dynastien der Qin und der Han und wie sie alle hießen, der Wei, der Zhou, der Tang, der Liao und der Ming, errichteten Mauerabschnitten Gesänge zuzuordnen, Vogellieder,

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