Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
sofort.
»Ah ja, das ist wirklich eine Persönlichkeit, wenn Sie so wollen! Der letzte der Baronets – das ist sein Spitzname.«
»Verzeihung, aber ich verstehe nicht ganz.«
Mr. Satterthwaite begab sich nachsichtig auf das niedrigere Begriffsvermögen eines Ausländers hinunter.
»Das ist ein Spaß, verstehen Sie – nur ein Spaß! In Wirklichkeit ist er natürlich nicht der letzte Baronet in England – er repräsentiert jedoch das Ende einer Ära. Der freche schlechte Baronet – der verrückte und leichtsinnige Baronet: Sie waren in den Romanen des vergangenen Jahrhunderts besonders beliebt – diese Leute, die wegen unmöglicher Dinge wetteten und ihre Wetten dann auch noch gewannen.«
Und er fuhr fort, das, was er meinte, noch eingehender zu beschreiben. In jüngeren Jahren war Gervase Chevenix-Gore mit einem Segelschiff um die Welt gefahren. Er hatte ferner an einer Expedition zum Pol teilgenommen. Einen Rennpferde züchtenden Peer hatte er zum Duell gefordert. Wegen einer Wette war er mit seiner Lieblingsstute die Treppe eines herzoglichen Hauses hinauf geritten. Einmal war er aus seiner Loge auf die Bühne gesprungen und hatte eine bekannte Schauspielerin mitten aus der Vorstellung entführt. Die Anekdoten über ihn waren zahllos.
»Die Familie ist alt«, fuhr Mr. Satterthwaite fort. »Sir Guy de Chevenix nahm am ersten Kreuzzug teil. Und jetzt stirbt dieser Zweig aus. Der alte Gervase ist der letzte Chevenix-Gore.«
»Und das Vermögen – ist es zusammengeschmolzen?«
»Aber nicht die Spur! Gervase ist sagenhaft reich. Wertvoller Hausbesitz, Kohlengruben gehören ihm, und außerdem besitzt er noch Anteile an irgendeinem Bergwerk in Peru oder sonstwo in Südamerika, die noch aus seiner Jugendzeit stammen und ihm bisher ein Vermögen eingebracht haben. Ein erstaunlicher Mann. Bei allem, was er unternahm, hatte er Glück.«
»Aber jetzt ist er natürlich schon älter?«
»Ja, der arme alte Gervase.« Mr. Satterthwaite seufzte und schüttelte den Kopf. »Die meisten Leute würden ihn wahrscheinlich als völlig verrückt bezeichnen. In gewisser Weise stimmt es. Er ist tatsächlich verrückt – nicht in dem Sinne, daß er in eine Anstalt gehörte oder an Wahnvorstellungen litte, sondern verrückt in dem Sinne, daß er anomal ist. Zeit seines Lebens war er ein Mann von großer charakterlicher Originalität.«
»Und im Laufe der Jahre wird Originalität zu Exzentrizität?« erkundigte sich Poirot.
»Sehr wahr. Genau das passierte dem armen alten Gervase.«
»Hat er vielleicht eine übersteigerte Vorstellung von seiner eigenen Bedeutung?«
»Vollständig. Ich könnte mir vorstellen, daß die Welt nach Ansicht Gervases in zwei Hälften geteilt ist: in die Familie Chevenix-Gore und die übrige Menschheit!«
»Ein übertriebener Familiensinn!«
»Ja. Die Chevenix-Gores sind verteufelt arrogant – eine Rasse für sich sind sie. Da er der letzte seiner Familie ist, hat Gervase besonders verrückte Vorstellungen. Er fühlt sich – also wenn man ihn hört, glaubt man es fast selbst –, äh, wie der Allmächtige!«
Langsam und nachdenklich nickte Poirot.
»Ja, genauso habe ich es mir gedacht. Ich habe nämlich einen Brief von ihm bekommen. Es war ein etwas ungewöhnlicher Brief. Er fragte nicht an – er verlangte etwas!«
»Ein allerhöchster Befehl also«, sagte Satterthwaite leise kichernd.
»Genau das! Es scheint diesem Sir Gervase gar nicht in den Sinn zu kommen, daß ich, Hercule Poirot, ein Mann von Bedeutung, mit endlosen Problemen beschäftigt bin! Daß es äußerst unwahrscheinlich ist, daß ich alles andere einfach stehen und liegen lassen würde und angerannt käme, wie ein gehorsamer Hund – wie ein bloßes Nichts, das dankbar ist, einen Auftrag zu erhalten!«
Mr. Satterthwaite biß sich auf die Lippen, um ein Lächeln zu unterdrücken. Vielleicht war ihm klar geworden, daß in Fragen des Egoismus zwischen Hercule Poirot und Gervase Chevenix-Gore gar kein so großer Unterschied bestand.
»Aber«, murmelte er, »wenn der Grund zu seiner Aufforderung nun sehr dringend war…?«
»Das war er eben nicht!« Diese Feststellung unterstrichen Poirots Hände mit einer weit ausholenden Gebärde. »Ich erhielt lediglich die Mitteilung, mich zu seiner Verfügung zu halten – allein für den Fall, daß er mich benötigte! Enfin, je vous demande! «
Wieder machten die Hände eine äußerst beredte Bewegung und drückten – besser als Worte – Monsieur Hercule Poirots äußerstes Mißfallen
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