Auf der Sonnenseite - Roman
Samstagmorgen, an dem kein Jugendamt arbeitete. Wo hätte der Heimleiter da Auskünfte über eine gesetzlich vorgeschriebene Verhaltensweise einholen sollen? Er musste in eigener Machtvollkommenheit entscheiden, und so wurden Silke und Micha schließlich geholt und sie durften in einem Raum mit ihnen allein bleiben. Es gab Tränen, Umarmungen und Küsse und am liebsten hätten sie einander nie wieder losgelassen. Und natürlich erwachte in den Kindern, ein Jahr älter und viel größer geworden, sogleich die Hoffnung, sie würden abgeholt.
Das war das Schwerste neben all der Wiedersehensfreude, dass sie ihnen nicht sagen konnten: »Packt euer Zeug zusammen«, sondern dass sie Silke und Micha auf später vertrösten mussten: »Bald! Bald! Jetzt dauert es ganz bestimmt nicht mehr lange.«
Silke, nun zehn, blond und langhaarig, weil ihre Mutter und sie vor ihrer Trennung beschlossen hatten, sich die Haare wachsen zu lassen, hatte sie sofort erkannt und war auf Hannah losgestürzt; Michael, drei Jahre jünger, war auf Lenz zugelaufen. Was passiert denn da?, fragten seine großen, runden, unsicher blickenden Augen, bevor er sich in seine Arme warf. Soll nun wirklich alles wieder gut werden?
Es war schön – und es war schlimm: Wie lange würden sie denn noch getrennt bleiben? Kinder erwarten von ihren Eltern, dass sie alles wissen; Lenz und Hannah wussten nichts. Der Karl-Marx-Städter Major hatte ihnen versprochen: »Im Oktober sind die Kinder bei Ihnen.« Im Stasi-Bus, der sie zur Grenze brachte und in dem auch ihre Rechtsanwälte mitfuhren – Rechtsanwalt Jürgen Stange aus WestBerlin und Dr. Wolfgang Vogel aus OstBerlin –, hatten sie noch mal nachgefragt, und Dr. Vogel, der schillernde Wundermann, der die Freikäufe arrangiert hatte, versicherte ihnen: »Jetzt, da Sie aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen sind, kann ich das auch für Ihre Kinder beantragen. Wenn nicht im Oktober, spätestens Weihnachten sind sie bei Ihnen.«
Daran klammerten sie sich fest, damit trösteten sie die Kinder. »Wir haben ja schon September, bis Weihnachten ist nicht mehr lange hin. Und sicher kommt ihr schon viel früher. Und dann, ja, dann machen wir’s uns schön.«
Tags darauf, nach einer Übernachtung im Westteil der Stadt, trafen sie sich erneut mit den Kindern. Diesmal außerhalb des Heimes. Silke und Micha waren auf dem Weg zu Lenz’ Bruder Robert, den Hannah und er dann auch besuchten. Zuvor gingen sie zu viert im Pankower Stadtpark spazieren, aßen im dortigen Ratskeller zu Mittag und Micha trank heimlich von Lenz’ Bier. Um danach spitzbübisch lächelnd zu fragen: »Mal sehen, ob er was merkt!«
Lenz merkte nichts. Aber hätte er etwas gemerkt, hätte er sich gefreut: Einem »Fremden« stibitzt man keinen Schluck Bier aus dem Glas.
Als sie die Kinder dann wieder im Heim ablieferten, hatte Hannah ein schönes Erlebnis. Michas Erzieherin, eine ältere, vom langen Arbeitsleben abgezehrt wirkende Frau, nahm sie in einem unbeobachteten Moment beiseite, streichelte ihr die Hand und flüsterte ihr mit verschwörerischer Miene zu: »Machen Se sich um die Kinder mal keene Sorjen. Kann, wat Sie jetan haben, jut verstehen.«
Nicht alle Erzieher und Erzieherinnen in diesem Heim werden so gedacht haben; beruhigend zu wissen, dass es wenigstens eine gab.
Dieser Besuch, für wenige Wochen machte er Mut. Doch dann wurde es Oktober und die Kinder kamen nicht. Dafür erreichte sie eines Tages ein Brief von Robert: Silke war mit Gelbsucht ins Krankenhaus eingeliefert worden! Und sie durften sie nicht besuchen, denn nun, sie hatten es ausprobiert, standen sie auf der Liste der unerwünschten Personen. Kein Zutritt mehr für Hannah und Manfred Lenz; die DDR – eine weggeschlossene Gesellschaft. Außerdem, so schrieb Robert, seien die Kinder seit dem Besuch ihrer Eltern aufsässig.
Letzteres nahm Lenz eher positiv auf. Offensichtlich reagierten die Kinder auf ihre unnormale Situation wieder völlig normal. Sie wussten wieder, dass sie nicht allein waren. Besser aufsässig als niedergedrückt! Und was blieb Hannah und ihm denn anderes übrig, als sie auch weiterhin zu ermutigen? Briefe flogen hin und her, Fragen wurden gestellt, Zukunftsträume gesponnen. Und Silke strickte für Hannah im Krankenhaus eine Puppe – fortan ihr Talisman.
Anfang Dezember hielt Lenz es dann nicht länger aus und flog nach Berlin. Zu Rechtsanwalt Stange, Dr. Vogels westlichem Partner im Freikaufsgeschäft. Ob man nicht irgendwie Druck machen
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