Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
offenbar wohlgesonnen. Oder er macht sich über mich lustig. Immerhin bin ich ja genau da, wo ich sein wollte: in einer ganz abgelegenen Gegend, in der es außer Bäumen überhaupt nichts zu geben scheint. Schon gar keinen Menschen, den man nach irgendetwas fragen könnte. Man muss bekanntlich vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht. Manchmal geht es in Erfüllung.
John Steinbeck hätte die Gegend vermutlich gefallen. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht – man sieht ja nichts. Steinbeck tat sich ohnehin leicht, der reiste in einer Art Wohnwagen, aufgebaut auf einem Kleinlaster, den er »Rosinante« taufte. Damit konnte er überall übernachten. Eine solche Konstruktion war damals noch so ungewöhnlich, dass er mit seinem Gefährt allerorten Aufsehen erregte. Da dies so war, brauchte er sich auch nichts darauf einzubilden, Kontakte knüpfen zu können. Wovor hat sich Steinbeck eigentlich gefürchtet? Was fand er denn so schwierig an seinem Vorhaben, dass er es »undurchführbar« nannte? Er war doch glänzend dafür gerüstet. Jedenfalls viel besser als ich, wie ich gerade feststelle.
Es ist das erste Mal, dass ich mit dem toten Dichter streite. Es wird nicht das letzte Mal bleiben. Es hilft, wenn man bei irgendeiner Adresse seine Wut über eigene Planungsfehler abgeben kann.
Übrigens weiß ich inzwischen, dass ich keineswegs allein bin auf der Welt, sondern dass es auch noch andere Menschen gibt. Ich sehe zwar nicht sie, aber doch die Scheinwerfer ihrer Autos. Ganz dicht hinter mir im Rückspiegel. Oder aufgeblendet vor mir auf der Gegenfahrbahn. Offenbar sind heute Abend hier nur Ortskundige unterwegs, denen mein gemächliches Tempo auf die Nerven geht. Den angeblich so entspannten, aggressionsfreien Stil des Autofahrens in den USA hatte ich von Ferienaufenthalten auch anders in Erinnerung. Ich lächle schon lange nicht mehr vor mich hin.
Warum verklären wir eigentlich die Fremde so gern? An die Mythen vom weisen, rücksichtsvollen Verkehrsteilnehmer in den USA und von der mobilen Gellschaft, die dem müden Wanderer immer und überall eine Herberge bietet, habe ich jahrzehntelang geglaubt. Schließlich beruhte das Weltbild nicht auf Hörensagen, sondern auf Erfahrung. Auf Ferienerfahrung.
Nach ähnlich begrenzten Erlebnissen – nämlich einem Europaurlaub – sind umgekehrt viele Amerikaner davon überzeugt, dass alle Deutschen ständig Bier trinken und die meisten auf Bauernhöfen leben, deren Mauern bayerische Lüftlmalerei ziert und zu denen kopfsteingepflasterte Gassen führen. Auch im Zeitalter des Massentourismus wissen wir immer noch sehr wenig von der Welt. Im Gegensatz zu unseren Vorfahren ist uns das allerdings nicht bewusst. Aber sollten wir nicht spätestens dann misstrauisch unserem vermeintlichen Wissen gegenüber werden, wenn Fremde unfreiwillig komisch sind, sobald sie uns begeistert die »interessante Kultur« unseres eigenen Landes schildern? Stattdessen halten wir immer nur alle anderen Touristen für unerträglich romantisch.
Jetzt suche ich im nördlichen Connecticut schon seit fast zwei Stunden nach einer Unterkunft. Mit Fernseher und ohne familiäre Atmosphäre oder umgekehrt – inzwischen ist mir das egal. Ich nehme, was ich kriegen kann. Ich kriege aber nichts.
Also zurück auf die Autobahn, wo kurz vor den Ausfahrten stets große Hinweisschilder über die nächsten Übernachtungsmöglichkeiten, Schnellrestaurants und Tankstellen informieren. Meine Verachtung gegenüber einer derart uniformen, öden Art des Reisens ist tiefer Dankbarkeit für diese Dienstleistung gewichen. Ich wollte Abgeschiedenheit? Nicht einmal an der Autobahn ist es hier einfach, ein Motel zu finden. Aber es ist immerhin möglich. Das Nest, in dem ich am Ende lande, wirbt in meinem Zimmer mit einer Broschüre für sich bei potenziellen Investoren: »Eine fortschrittliche Stadt, die auf einer starken finanziellen Basis steht.« Dass ich nicht lache. Nicht mal einen Schnellimbiss gibt es hier. Mein Abendessen besteht aus einem Schokoriegel, den ich aus einem Automaten ziehe.
Am nächsten Morgen frage ich die Rezeptionistin des Motels nach dem Weg zur Straße 169. Ob ich zur Schule wolle? Nein. Wohin denn dann genau? »Na ja, einfach irgendwie zur Straße 169.« Ratlosigkeit. Ich bemühe mich um eine Erklärung: »Ich möchte nur die Straße anschauen. Sie soll sehr schön sein.« Das ist offenbar keine besonders glückliche Formulierung. Die Rezeptionistin schaut mich an, als sei ich nicht
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