Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
verschaffen. Das will ich ja nun gerade nicht: mir das Land aus der Perspektive derer erklären zu lassen, die sich mit denselben Leuten gut verstehen, mit denen auch ich mich gut verstehe. Ich möchte keine Kultur-Dolmetscher, seien sie noch so klug und sympathisch. Nicht mit den Ethnologen, sondern mit den Eingeborenen will ich reden.
Connecticut ist allerdings wohl nicht die beste Gegend, um damit anzufangen. Hier gibt es mehr Herrenhäuser, als es jemals Herren gegeben haben kann. Gepflegte Rasenflächen liegen vor strahlend weißen Häusern mit zierlichen Erkern, hohen Sprossenfenstern und grünen Fensterläden oder vor alten Villen aus Naturstein, verwinkelt und zugleich imposant. Hierher scheint es keine Neureichen zu ziehen, hier wohnt viel altes Geld. Und wenn das Geld so alt denn doch nicht ist – in Connecticut sind besonders große Summen mit Hedge-Fonds verdient worden –, dann soll es wenigstens so aussehen. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie eines der säulengeschmückten Eingangsportale sich öffnet, während die elegant gekleideten Gäste einer Soiree die Freitreppe emporsteigen. Aber vorstellen muss man es sich eben. Zu sehen ist niemand. Das Einzige, was hier auf Kontakte zur Außenwelt hindeutet, sind die Briefkästen, die im Abstand von jeweils etwa 50 Metern die Straße säumen.
Auch die kleinen Ortschaften wirken wie ausgestorben. Stolz künden Schilder am Ortseingang vom Jahr ihrer Gründung: 1713 Pomfret, 1697 Canterbury, 1686 Woodstock. Connecticut gehört zu den 13 Gründungsstaaten der USA und hat während des Kampfes um die Unabhängigkeit von Großbritannien die Kontinentalarmee mit Proviant versorgt. Hier müsste die historische Erinnerung nicht mit nachgespielten Schlachten oder anderen Kostümfesten wachgehalten werden – hier gehört sie ohnehin zum Alltag.
Aber womit vertreiben sich die Leute in diesen Dörfern die Zeit? Restaurants gibt es wenige, Diskotheken noch weniger, Kinos überhaupt keine. Was es gibt: Kirchen. Viele, viele Kirchen. An den meisten stehen Hinweisschilder auf sonntägliches Gemeindevergnügen. Roastbef-Dinner mit dem Pfarrer, Pasta-Dinner mit dem Pfarrer, Spaghetti-Dinner mit dem Pfarrer. Das wäre sicher interessant. Aber heute ist Mittwoch.
Wäre ich hier im Urlaub: Die sanft geschwungenen Hügel, die Wiesen mit den niedrigen Feldsteinmauern, die rot gefärbten Eichen und Ahornbäume, die leuchtend gelben Birken des beginnenden Indian Summer würden mich begeistern. Der späte September ist nicht grundlos eine besonders beliebte Reisezeit für diese Gegend. Aber ich bin nicht im Urlaub. Ich bin Journalistin, und ich bin hier, um zu recherchieren. Bloß wie? Erst jetzt fällt mir auf, wie lange es her ist, dass ich als Reporterin nach Gesprächspartnern gesucht habe, die mich nicht erwarteten und denen ich nicht im festen Rahmen einer klaren Rollenverteilung begegnet bin. Es liegen Welten zwischen der Berichterstattung von einem Parteitag oder auch aus einem Flüchtlingslager und dieser fruchtlosen Suche in einer satten, friedlichen Gegend, die sich selbst genug zu sein scheint.
Ziellos fahre ich umher und fühle mich wie eine Berufsanfängerin. Unsicher, ratlos. Plötzlich bin ich über die Grenze nach Rhode Island geraten, in den kleinsten Bundesstaat der USA, in den ich überhaupt nicht wollte. Aber nun bin ich halt mal da. Entschlossen betrete ich ein Lokal im Städtchen West-Greenwich. Sechs Männer sitzen mit dem Rücken zu mir an der Bar von »Venus Pizza«. Sie schweigen und starren auf einen der insgesamt vier im Raum verteilten Fernsehmonitore, auf denen ein offenbar spannendes Baseball-Spiel zu sehen ist. Ich kenne nicht mal die Regeln. Die einzige Frau außer mir, eine Mutter mit zwei übergewichtigen Kindern im Alter von etwa zehn und zwölf, verlässt das Lokal nach wenigen Minuten. Mein freundliches Lächeln wurde nicht erwidert. John Steinbeck klagte in Briefen von seiner Reise über Einsamkeit.
So wird das nicht gehen. Ich muss offensiver werden. Am nächsten Tag fahre ich zurück nach Connecticut, genauer: nach Branford, eine Kleinstadt am Meer östlich von New Haven. Malerisch und hübsch, aber ich will mich von den pittoresken Touristenattraktionen jetzt erst einmal fernhalten. Mein Motel liegt in einem kleinen Gewerbegebiet, in der Nähe von einem Herstellungsbetrieb für Fertigsoßen, einem Autohaus, einem Großhandel für Computerzubehör. Und unmittelbar neben einem Trailer-Park. Wie übersetzt man das? Im Lexikon
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