Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
er gerade Nemo, und für Nemo ist dies die Wahrheit.
Rodney spielte drei Jahre lang die meiste Zeit über die Figur »John Berger«. John Berger, ein jüdischer Kunststudent, Fotograf und Schauspiellehrer, der sich auch fürs Filmemachen und für Philosophie interessiert und ein sexuell freizügiges Leben im New Yorker Künstlerviertel führt. In dieser Rolle hatte er mit seiner Vergangenheit als Rod Alcala, Sohn mexikanischer Einwanderer aus einer kaputten Familie, der zurückgezogen in Hollywood lebt und heimlich Fotos kleiner Mädchen sammelt, nicht mehr viel zu tun. Seine sexuelle Zielphantasie, brutal zu vergewaltigen und zu töten, blieb zwar gleich. Ebenso sein großes Interesse für Kunst. Doch John Berger war besser, selbstsicherer, erfolgreicher als der alte Rod Alcala. Daher hat Rodney keine große Lust, sich mit dieser »Figur« aus seiner Vergangenheit näher zu beschäftigen.
Es ist für ihn sehr unangenehm, sich nun doch in Los Angeles vor den Justizbehörden für sein Verbrechen an Tali Shapiro verantworten zu müssen. In dieser Situation interessiert ihn nur, wie er sich mit möglichst wenig Schaden aus der Affäre ziehen kann. Dabei kommt ihm ein Zufall sehr gelegen: Die Staatsanwaltschaft will ihn wegen Entführung und Vergewaltigung der damals achtjährigen Tali anklagen. Aus juristischen Gründen wird in diesem Fall von vornherein ausgeschlossen, dass man ihn zusätzlich wegen versuchten Mordes belangen kann. Doch auch die geplante Anklage steht auf wackligen Beinen, da Talis Familie bereits vor drei Jahren das Land verlassen hat. Und die Eltern wollen ihrer Tochter nicht zumuten, im Prozess auszusagen. Damit fehlt die Aussage der wichtigsten Zeugin.
Dies bringt die Staatsanwaltschaft in die unangenehme Situation, Rodney einen juristischen Deal anbieten zu müssen, um überhaupt sicherzugehen, dass er verurteilt wird. Rodney erkennt sofort, dass dies die bestmögliche Lösung für ihn ist. Er handelt aus, dass er nicht wegen Entführung und Vergewaltigung, sondern nur wegen sexuellem Kindesmissbrauch angeklagt wird. 1972 bekennt Rodney sich dieses Deliktes schuldig – wie mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt. Dafür wird bei ihm das damals in Kalifornien noch geltende Gesetz der »unbestimmten Strafzumessung« angewendet. Das bedeutet, die Bewährungskommission und nicht der Richter entscheidet, wie lange er tatsächlich in Haft bleibt. Aufgrund dieses Gesetzes wird er wegen Kindesmissbrauchs zu einer Haftzeit zwischen einem und zehn Jahren verurteilt.
Im Gefängnis benimmt sich Rodney vorbildlich. Er spielt perfekt die Rolle des freundlichen, einsichtigen und reumütigen Täters, dessen Verbrechen ein einmaliger, schwerer Fehler war. Da er intelligenter, gebildeter und charmanter ist als die meisten seiner Mithäftlinge, ist es für ihn leicht, dem Gefängnispersonal positiv aufzufallen. Der Gefängnispsychiater fällt auf das perfekte Schauspiel herein und glaubt, dass Rodney tatsächlich große Fortschritte macht. Nach fast drei Jahren Haft bescheinigt der Psychiater, dass er Rodney nicht mehr für gefährlich hält. Die Bewährungskommission entscheidet daraufhin im August 1974, dass Rodney nach vierunddreißig Monaten in Haft auf Bewährung entlassen wird. Als Bedingung muss er sich nur von der örtlichen Polizei als Sexualstraftäter erfassen lassen.
Diese absolute Fehleinschätzung des Gefängnispsychiaters ist einer der Fälle, die viele Menschen daran zweifeln lassen, ob forensische Gutachter schwere Straftäter wirklich richtig beurteilen können. Doch ich bin mir sicher, dass Rodney mit den heutigen wissenschaftlichen Methoden rechtzeitig als Psychopath erkannt worden wäre. Während der letzten fünfzig Jahre ist das Wissen der Psychologie und Psychiatrie durch sehr viel internationale Forschung unglaublich gewachsen, vergleichbar mit dem Fortschritt vom Mittelalter in die heutige Zeit.
In den 70er Jahren wissen Psychologen und Psychiater noch viel zu wenig darüber, was vor allem kriminelle Psychopathen ausmacht. Es ist die Zeit, als der kanadische Psychologe Robert Hare intensiv am Thema Psychopathie forscht. Er will kriminelle Psychopathen wissenschaftlich richtig beschreiben. Erst dadurch gelingt es ihm, die »Psychopathie-Checkliste« zu entwickeln. Dies ist der erste wissenschaftliche Test, mit dem Psychologen und Psychiater kriminelle Psychopathen sicher von anderen Straftätern unterscheiden können. Dass dieser Test tatsächlich funktioniert, haben jahrzehntelange
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