Aus heiterem Himmel (German Edition)
1. KAPITEL
Durch einen nackten Mann geweckt zu werden, das wäre natürlich etwas anderes. Aber weit und breit war kein nackter Mann in Sicht, und so wurde Nicole Mann wie üblich durch den Wecker geweckt. Und wie jeden Tag schaffte sie es auch heute, innerhalb von nicht einmal zehn Minuten zu duschen, sich anzuziehen und als Frühstück einen Burrito zu verschlingen.
Wie jeden Tag stürmte sie aus ihrem Apartment, um zum Krankenhaus zu kommen, wo ihr diesmal wegen der Grippewelle wahrscheinlich eine Doppelschicht bevorstand.
Ihr gesamtes Leben wurde nur von der Arbeit bestimmt, doch was war schon dabei? Ärztin war einfach ihr Traumberuf, auch wenn ihr deswegen kaum Zeit für irgendetwas anderes blieb. Nicht einmal Zeit für nackte Männer, aber auch damit konnte sie leben. Als Hochbegabte hatte sie schon mit zwölf Jahren die Highschool abgeschlossen, und seit diesem Tag, der fünfzehn Jahre zurücklag, hatte sie davon geträumt, einmal Ärztin sein.
“Pst.”
Nicole dachte immer, sie hätte Nerven wie Drahtseile, doch jetzt zuckte sie zusammen, als sie im dunklen Hausflur ein Flüstern hörte.
Das Flüstern stammte jedoch nicht vom Schwarzen Mann oder einem anderen Ungeheuer. Es war nur die Hausbesitzerin, ihre Freundin Taylor Wellington, die den Kopf aus der Tür ihres Apartments streckte. Taylor war schön und freundlich, was allein schon Grund genug wäre, um sie zu hassen. Außerdem konnte Taylor reden, bis man sich völlig erschlagen fühlte von ihrer Redeflut. Doch Nicole wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, sich gegen sie zu wehren.
Nicole konnte es immer noch nicht recht begreifen, dass diese Frau ihre Freundin geworden war, obwohl sie so grundverschieden waren.
“Pst.”
“Ich sehe dich ja”, sagte Nicole. “Habe ich dich geweckt?” Taylor sah allerdings nicht so aus, als sei sie gerade aus dem Bett gefallen. Allerdings sah sie immer perfekt aus, auch wenn es noch früh am Morgen war.
“Nein, wenn ich schlafe, dann kann mich nichts und niemand wecken”, versicherte Taylor. “Aber ich habe mir den Wecker gestellt, um dich abzupassen.”
Sie musterte Nicole von Kopf bis Fuß, und Nicole sah, dass Taylor wie üblich perfekt geschminkt war.
“Liebes, ich dachte, wir wären uns einig, was deine Tarnanzüge angeht.”
Nicole blickte an sich hinunter. Sie trug ein ärmelloses olivgrünes T-Shirt und eine eng anliegende Armyhose mit tausend Taschen. Was gab es daran auszusetzen? So hatte sie sich schon während ihrer Studienzeit angezogen. Damals hatte sie sich solche Sachen in Secondhandläden gekauft, weil es günstig war, doch mittlerweile hatte sie sich an diesen bequemen Look so sehr gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr aufgeben wollte. Aber es überraschte sie, dass es Taylor etwas ausmachte, wie ihre Mitbewohnerin auf andere wirkte.
Nicole lebte erst ein paar Wochen hier in South Village, einem trendigen Stadtviertel am Rand von Los Angeles. Ihre vorherige Wohnung war größer gewesen, und in dem weitläufigen Apartmenthaus hatte sich niemand darum gekümmert, wer sein Nachbar war. Ihr hatte diese Anonymität eigentlich gut gefallen. Sie war lediglich deshalb umgezogen, weil das Haus verkauft wurde und die neuen Besitzer alles umgestalten wollten. Ihr neues Apartment lag nahe beim Krankenhaus, und es war klein, was den Vorteil hatte, dass sie weniger putzen musste. Dass dieses Haus baufällig war, sah sie zwar als Nachteil, doch solange sie ein Bett zum Schlafen hatte, war sie zufrieden.
“Weshalb wolltest du mich abfangen?”, fragte sie Taylor.
“Ich dachte mir schon, dass du es vergessen hast. Heute Abend wollen wir doch Suzannes Verlobungsparty planen.”
Suzanne Carter lebte im dritten Apartment des Hauses. Die drei Frauen waren die einzigen Bewohner und hatten schon oft miteinander gelacht und Eis gegessen. Doch es widerstrebte Nicole, eine Party vorzubereiten, auf der sie geschminkt herumlaufen, lächeln und Konversation betreiben müsste. Sie hasste das alles.
“Du hast es vergessen”, stellte Taylor nüchtern fest.
“Nein, ich …” Also schön, dachte Nicole, ich hab’s vergessen.
Nicole konnte es nicht ändern, dass sie, was Feiern und dergleichen Termine betraf, sehr vergesslich war. Ihre Familie, die sie nur selten zu Gesicht bekam, konnte ein Lied davon singen. In diesem Jahr hatte sie schon die Familienfeier zur Rückkehr ihrer Schwester vom College vergessen, genauso wie die alljährliche Feier am ersten April und sogar ihren eigenen
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