Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
zeitgleich den unbekannten Fremden zu observieren, passierte es. In der einen Sekunde blickte der Mann noch nach oben, in der nächsten drehte er seinen Kopf und blickte genau in meine Richtung. Als hätte er gespürt, dass ich ihn schon eine Zeit lang beobachtet hatte. Mir schoss schlagartig das Blut ins Gesicht. Er hatte mich offenbar erwischt. Nur was sollte ich jetzt tun? Verschämt wegschauen? Nennen Sie mich trotzig, aber das war nicht mein Stil. Wenn ich jemanden anstarrte und dabei erwischt wurde, dann stand ich dazu, und war es für mich auch noch so peinlich. So standen wir also in einiger Entfernung voneinander – er unter seinem Blätterdach, ich unter dem Blechdach der Haltestelle – und starrten einander an. Ich konnte seine Augen nicht genau sehen, was mir ehrlich gesagt gar nicht so unrecht war. Dass sich seine Mundwinkel langsam nach oben bewegten und sich in einem hypnotisierenden Lächeln eine blendend weiße Zahnreihe offenbarte, das konnte ich dagegen sehr gut erkennen. So weiße Zähne hatte ich noch nie gesehen und war schwer am Überlegen, ihn tatsächlich zu fragen, wo er das Bleaching habe machen lassen. So langsam verschwand das Blut aus meinem Gesicht und ließ dafür meine Haut erschauern. Dieses Lächeln, so selbstsicher, so wissend um seine Wirkung, jagte mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Verdammt, was war nur los mit mir?
Ich hatte plötzlich das Gefühl, nackt an der Haltestelle zu stehen. Dieses Lächeln verunsicherte mich zutiefst. Es war so durchdringend, so sanft und doch ausdrucksstark. Das war kein „Hallo, schön Sie zu sehen“-Lächeln, das war ein „Hallo, schön, dass Sie morgen mit mir frühstücken werden“-Lächeln. Jeder Mann hatte so ein Lächeln. Es war das Lächeln, das sich normalerweise zeigte, wenn die Frau über das erste Kennenlernen und die ersten Küsse hinausgegangen war und dem Mann signalisiert hatte, dass sie bereit war, ihn heute Nacht bei sich behalten zu wollen. So siegessicher, so erobernd, so unendlich zufrieden mit sich selbst. Hase gejagt, Beute geschnappt. Nur fühlte ich mich selten wie ein Hase, und außerdem hatten wir uns noch nicht mal vorgestellt, geschweige denn die erste Kennenlernphase hinter uns gebracht. Der Kerl war mir völlig fremd. Trotzdem verunsicherte er mich über die Maßen und weckte diesen kleinen Kolibri, der sich in solch aufregenden Situationen stets schlagartig in meinem Magen ans Fliegen machte. Als würden seine kleinen, emsig flatternden Flügel meine Magenwand streifen. Zeitgleich wurden mir dann auch noch die Knie weich. Jetzt reicht’s!, dachte ich mir. Es kann doch nicht sein, dass dich ein vollkommen Fremder mit einem kleinen Zahnpastalächeln so aus dem Takt bringt. Reiß dich mal zusammen! Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren, ganz besonders über mich selbst. Zumindest außerhalb des Schlafzimmers. Doch egal wie viel Mühe ich mir gab, ich konnte einfach den Blick nicht von dieser dunklen, schlanken Gestalt unter meinem Lieblingsbaum abwenden, so faszinierend, so geheimnisvoll verführerisch, wie er dort stand, als hätte er tagtäglich für diese besondere Pose geübt. Oh gut, mein Zynismus funktionierte tatsächlich noch ein bisschen und half mir zumindest, aus meinem Kolibri nicht eine ganze Vogelschar werden zu lassen. Das war dann nämlich der Zeitpunkt, an dem es für mich und nicht selten für einige Beteiligte brenzlig wurde, der einzige Zeitpunkt, an dem ich mir gestattete, meine Fassung willentlich zu verlieren und mich hemmungslos einfach dem hinzugeben, was mein Körper verlangte. Einfach genommen zu werden, einfach Frau zu sein, mit Haut und Haar, ekstatisch und leidenschaftlich. Da hatte schon der eine oder andere Mann nicht schlecht gestaunt. Hinter meiner vertrauensvollen Fassade lauerte tief in mir drin eine wilde Katze, die nur darauf wartete, sich in die Kolibrischar zu stürzen, sie zu reißen und somit den Weg frei für mehr zu machen. Und während meine Gefühle in mir gerade Achterbahn fuhren – vom Kopf in die Füße und wieder zurück mit prickelndem Zwischenstopp zwischen meinen Beinen – wurde das fremde Lächeln immer breiter, fast zu einem Grinsen, so als wüsste der Mann in diesem Moment genau, was in mir vorging. Als konnte er hören, wie sich mein Atem ein klein wenig beschleunigt hatte, als konnte er sehen, was sich da unter meiner Kleidung und unter meiner Haut abspielte, als konnte er mein sich anbahnendes Verlangen nach ihm
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