Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
Wartehäuschen beginnenden Parks schweifen. Im Sommer war dieser Park eine reine Oase der Ruhe. Ich verbrachte dort so gerne meine Mittagspause unter meinem Lieblingsbaum, einer stattlichen Pappel. Meiner Mutter waren Pappeln nie geheuer gewesen, man hatte ihr als Kind einst eine Gruselgeschichte von einer Prinzessin erzählt, die nachts auf der Flucht mit ihrer Kutsche ins Moor gestürzt war, während der Wind klagend durch die umstehenden Pappeln rauschte. Seitdem bedeuteten Pappeln für sie Unheil und Tod. Ich konnte diesen Glauben nicht teilen. Vielmehr hatte gerade diese Geschichte meinem Lieblingsbaum noch einen weiteren mystischen Hauch verliehen. Es war bisher nicht eine Mittagspause unter meiner Pappel vergangen, in der ich nicht an diese Geschichte dachte. Nennen Sie mich ruhig morbide. Mir gefiel das.
Von der Bushaltestelle aus war die Pappel relativ gut sichtbar, in einiger Entfernung befand sich zudem eine kleine Parklaterne, die den tagsüber gut benutzten Teerweg ein wenig erhellte. Jetzt allerdings war kein Mensch mehr unterwegs, selbst die Gassigeher hatten ihre Fiffis offenbar gebeten, sie mögen ihr Geschäftchen doch im heimischen Garten erledigen oder gnädigerweise um ein, zwei Stunden nach hinten verschieben. Manchmal jagte man wirklich keinen Hund vor die Tür, wie das Sprichwort so sagte.
Umso irritierter war ich, als ich in all der anthrazitgrauen, vom schimmernden Laternenlicht hier und da stellenweise gelblich verfärbten Dunkelheit die Umrisse eines Mannes ausmachte, der an meinem Lieblingsbaum lehnte. Erst dachte ich, es sei womöglich ein Angestellter der Firma, der auf dem Nachhauseweg Schutz vor dem überraschend einsetzenden Regen gesucht hatte. Immerhin möglich und einleuchtend. Doch irgendwie sagte mir mein Gefühl, dass es sich hier nicht um einen Kollegen handelte. Sicher konnte man in einer zweihundertfünfzig Mann starken Zweigstelle nicht jeden Menschen persönlich kennen. Man entwickelte allerdings beim jahrelang praktizierten täglichen Kantinengang einen gewissen Überblick über die zur Firma gehörenden Damen und Herren.
Nein, dieser Mann – es musste einer sein, denn trotz Dunkelheit und einiger Entfernung war die Statur eindeutig männlich; Frauen erkennen das ja auf hundert Kilometer gegen den Wind sogar noch mit verbundenen Augen – war mir bisher noch nie untergekommen. Weder in der Kantine noch sonst wo außerhalb der Reichweite meines Arbeitgebers. Da war ich mir einfach sicher. Seine Silhouette wurde leicht von dem kleinen Laternchen angestrahlt. Auch wenn er ein gutes Stück weit weg war, erkannte ich, dass er mit dem Rücken am Baum lehnte, das rechte Bein lässig am Stamm angewinkelt. Ich zwickte meine Augen angestrengt zusammen, um, dem Regen und der Dunkelheit trotzend, mehr erkennen zu können. Seine Hände steckten in seinen Jackentaschen, sein Kopf lehnte am Stamm und sein Gesicht war der Baumkrone zugewandt. Lange dunkle Haare fielen offen und lässig wie ein glänzender Vorhang über seine Schultern, und an seinen klobigen Schuhen blitzten hier und da kleine Nieten im Laternenschimmer auf. Das Ganze wirkte irgendwie seltsam friedlich. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte gesagt, er genoss tatsächlich den abendlichen Regen. Genoss es, im Dunkeln am Stamm der Pappel lehnend dem Prasseln der Tropfen auf das nicht mehr ganz so dichte Blätterdach zu lauschen und dabei den frischen Duft, den der Regen mit sich brachte, einzuatmen. Ich wusste nicht, wieso mir dieser Gedanke kam – es mochte durchaus das Surreale des Augenblicks gewesen sein. Zumindest kam es mir surreal vor – Sie erinnern sich, von wegen dunkel und nass in Kombination mit mir, ein No-Go.
Was tat dieser Kerl da? Und wieso tat er das? Fragen über Fragen türmten sich in meinem Kopf, ohne dass ich sie da überhaupt haben wollte. Was ging mich schon irgendein Fremder unter einem Baum an? Nun ja, auch wenn’s mir peinlich war zuzugeben, aber ich war von Haus aus schon immer recht neugierig.
In einem gesunden Maß, nicht übertrieben.
Neugier war schließlich der Katze Tod.
Sollte der Typ doch machen, was er wollte. Aber wieso faszinierte er mich dann so sehr? Seine Lässigkeit, so wie er dort am Baum lehnte, und gleichzeitig auch seine Eleganz, als würde er der Nacht entstammen, sich in ihr zu Hause fühlen. Ich konnte mir hierauf einfach keinen Reim machen.
Während ich noch angespannt versuchte, Ordnung in mein plötzlich so chaotisches Oberstübchen zu bringen und
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