Ausgesetzt
klar, dass sie Stewey ein wenig lächerlich vorkommen mussten. Walker war nämlich mit seinen einsneunzig einen ganzen Kopf größer als sie, so dass sie sich das Gesicht an seiner Brust platt drückte. Aber es war Walker egal, was Stewey dachte, auch er drückte Heather an sich. In all den Jahren, die er in Sudbury in Pflege gewesen war, war sie seine Fürsorgerin gewesen. Er war auf ihren Schoß geklettert, hatte sich an ihre Hand geklammert, wenn sie ihn zu neuen Pflegeeltern brachte, und dann wieder zu neuen Pflegeeltern – fünf Pflegefamilien in acht Jahren.
»Warum kann ich nicht bei dir bleiben?«, hatte er mehr als einmal gefragt.
»Gegen die Vorschriften«, hatte sie geantwortet. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert.«
Was sich als nicht ganz richtig erwies, denn in der ersten Familie drückten ein paar Kinder seinen Kopf in die Toilette, in der zweiten zog ihm sein Pflegevater eins mit der Gürtelschnalle über und in der dritten steckte ihm ein Mädchen, das gerade eine schlimme Pubertätskrise durchmachte, Stifte in den Po.
Aber er erzählte niemandem davon, niemals. Er wurde einfach schwer erziehbar, weshalb ihn Heather Duncan immer wieder ins Auto setzen und woanders hinbringen musste.
Sie tat ihr Bestes. Sie küsste ihn auf die Wange. Sie schenkte ihm Kaugummi. Sie war seine beste Freundin.
Sie weinte sogar, als die Familie Graziano beschloss, über dreihundert Kilometer weiter nach Norden zu ziehen, nach Thunder Bay. Und weil sie die besten Pflegeeltern waren, die er jemals gehabt hatte, und weil er dieses Jahr in der Schule in so gut wie keine Rauferei verwickelt gewesen war, hatte das Jugendamt beschlossen, dass er mit den Grazianos dort hinauf ziehen sollte. Da war er elf gewesen und Mündel des Staates.
Heather Duncan fragte ihn, ob er wirklich gehen wolle, und Walker dachte eine Weile intensiv nach, die Anstrengung deutlich sichtbar in seinem Jungengesicht. Er dachte an all die winzigen Schlafzimmer in all den verschiedenen Häusern, all die Kinder- und Stockbetten. An die Angst und die Auseinandersetzungen, die versteckten Drohungen, er solle brav sein, sonst werde er schon sehen, die feuchtfröhlichen Partys, das gefühlsduselige Abgeknutsche, das unerforschliche Kommen und Gehen der Erwachsenen. Er dachte daran, dass er nie sicher sein konnte, was im nächsten Augenblick mit ihm geschehen würde. Er sagte ja.
Leider wurde Mr. Graziano fast zeitgleich mit ihrer Ankunft in Thunder Bay arbeitslos. Eines Abends stieß er seine Frau, die eine vierte Schwangerschaft nicht zu verhindern gewusst hatte, durch das Glas der Eingangstür. Überall war Blut. Wieder einmal wurde Walker von der Fürsorge abgeholt und diesmal zu Gerard und Mary Devereaux nach Big River geschickt, einer kleinen Stadt südlich von Thunder Bay. Das war mitten im Winter, und die Schneewehen waren höher als Heather Duncans Auto.
Walker blickte aus dem vereisten Fenster auf sein nächstes neues Zuhause. Es war ein hohes, altes, weißgestrichenes Schindelhaus, und davor standen drei Schneemänner im Kreis. Einer hatte einen weichen Filzhut auf, der nächste, etwas kleiner, eine Baseballmütze und der kleinste einen Kohlkopf. Auf den Rest der Welt machten sie den Eindruck, in ein äußerst wichtiges Gespräch vertieft zu sein. Walker, der sich an einen alten Pappkoffer mit all seinen Anziehsachen, seiner Zahnbürste und den Comic-Heften klammerte, riskierte ein Lächeln.
Jetzt telefonierte Heather Duncan. Jemand solle herunterkommen. Walker Devereaux sei soeben mit einem Freund – dabei hielt sie inne und taxierte Stewey mit einem kurzen professionellen Blick, als ob sie prüfen müsse, ob er ein guter Umgang sei oder nicht – aus Big River angekommen.
Sie tätschelte Walker die Wange und drohte ihm mit der Höchststrafe, sollte er sich nicht noch einmal bei ihr blicken lassen, bevor er ging. Sie wollte ihn und Stewey am Abend zum Essen ausführen. Walker sagte, das sei ein verlockendes Angebot, Stewey pflichtete ihm bei, und damit wandte Heather Duncan sich um und verschwand auf dem Flur.
»Die ist nett«, musste Stewey zugeben.
Walker fischte Zigarettenpapier aus der Tasche. Er war nervöser, als er gedacht hätte.
Stewey wusste alles über Walker, zumindest alles, was Walker ihm erzählen konnte. Sie waren beste Freunde geworden, bald nachdem Walker bei den Devereaux’ eingezogen war. Stewey und seine Bande hatten ihm nach der Schule aufgelauert. Stewey hatte sich
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