Aussicht auf Sternschnuppen
mehr Ringe als Finger an der Hand hatte. Auch Nase, Augenbrauen und Ohren waren mehrfach gepierct.
Nachdem Bruno zwei Stunden an mir herumgeschnitten, gesträhnt und geföhnt hatte, erkannte ich mich kaum wieder. Meine Haare, die vorher noch bis in die Mitte meines Rückens gefallen waren, reichten nur zwei Zentimeter übers Kinn und wirkten durch unzählige Strähnchen fast hellblond. Ich wusste nicht recht, was ich von meiner neuen Frisur halten sollte. Lenkte sie den Blick nicht zu sehr auf meine Nase? Auch die ungewohnte Nackenfreiheit war seltsam.
Für den Samstagnachmittag vor dem Ball hatte Fee einen Termin bei einer Visagistin arrangiert. Judith aus Ungarn kam zu Fee nach Hause und brachte neben einem riesigen Schminkkasten auch eine Gürteltasche mit bestimmt 20 verschiedenen Pinseln mit. Sie sah aus wie ein Model mit ihrem überlangen Pony und dem ebenmäßigen Gesicht, entpuppte sich aber zum Glück als nett und unkompliziert.
„Du Helgar, hast ein sehrr schönes Gesicht. Ich werrde es noch schönerr machen“, sagte sie und hielt, was sie versprach.
Stand ich meiner neuen Frisur anfangs noch ausgesprochen skeptisch gegenüber, war ich von Judiths Malerarbeiten in meinem Gesicht sofort begeistert. Mit jeder Farblage wurde mein Teint ebenmäßiger, meine Wangenknochen konturierter, meine Augen strahlender und meine Lippen voller.
Auch Fee war begeistert. „Wow! Du siehst so toll aus! Vielleicht sollte ich mein Outfit noch einmal überdenken, sonst stiehlst du mir heute Abend komplett die Show.“ Sie zupfte ein wenig unentschlossen an ihrem silbrig-grauen Kleid mit dem reichverzierten Oberteil herum, das sich eng um ihren mittlerweile gigantischen Babybauch schmiegte.
Ich selbst hatte mir ein mattgoldenes, bodenlanges Kleid gekauft. Im Gegensatz zu meinem sonstigen Kleidungsstil konnte es schon fast als bombastisch bezeichnet werden, aber tatsächlich war es ein eher schlichtes Modell, das durch sein enges, schulterfreies Oberteil und den weiten bauschigen Rock geschickt kaschierte, dass ich neun Monate lang zu viel Fast Food gegessen hatte.
Aber ich kam gar nicht erst dazu, mir allzu viele Gedanken zu machen, denn direkt nach unserer Schminksitzung mussten wir uns zusammen mit Kameramann Jens und Tonassistent Tobias auf den Weg zum Bayerischen Hof machen, einer der ersten Hoteladressen in München, wo ein Zimmer für eine Nacht so viel kostete wie meine Wohnung im Monat. An der Gründerstil-Fassade des Hotels vorbei war ein bestimmt 40 Meter langer roter Teppich ausgerollt, dessen eine Seite von Fotowalls mit verschiedenen Werbeaufdrucken begrenzt wurde. Auf dem Boden vor dem Teppich waren im Abstand von vielleicht einem Meter Klebestreifen fixiert worden. Auf einem der Streifen stand trend . Unser Platz für die nächsten Stunden. Doch Fee und Tobi begannen sofort, den Klebestreifen gegen einen anderen, ein wenig näher am Eingangsportal befand, auszutauschen.
„Warum tut ihr das?“, fragte ich Fee.
„Unser alter Platz war zu nahe an der Wand, vor der die Stars für Pressefotos posieren. Dort bekommst du als Filmteam keinen vernünftigen O-Ton, weil die Fotografen sich die Seele aus dem Leib schreien.“
„Und was schreien Sie?“
Fee grinste. „Frau Ferres, Frau Ferres! Bitte hierher! Frau Ferres! Bitte jetzt ein bisschen mehr nach rechts drehen! Und noch einmal der Blick über die Schulter. – Du wirst es gleich hören. Als Filmteam ist es besser, sich ein wenig weiter weg zu positionieren. Ich rufe die Stars, die für uns interessant sind, dann nacheinander zu uns herüber.“
„Ist Nils für euch interessant?“
Fee schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat im letzten Jahr nichts Spannendes gemacht, seine Eltern auch nicht. Aber ich muss unbedingt versuchen, Florian David Fitz zu erwischen. Der hat nämlich gestern auf der Verleihung des Bayerischen Filmpreises den Preis für das beste Drehbuch und den Publikumspreis erhalten. Um deinen Schöneberger kannst du dich selbst kümmern.“
„Er kommt also nicht automatisch zu uns?“
„Quatsch. Die Stars kommen nie von alleine, sondern immer nur, wenn sie gerufen werden. Die sind froh, wenn sie in ihren dünnen Kleidern so schnell wie möglich im Warmen sind.“
Ich atmete auf. Es wäre mir sehr unangenehm gewesen, wenn Nils mich auf diese Weise nach fast einem Jahr wiedergesehen hätte, eingezwängt in einem winzigen Kästchen mit unzähligen schreienden Presseleuten neben mir und, bis die Veranstaltung endlich begann,
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