Auszeit
in der Geschichte, der erste Schritt in Richtung auf die Wiederbelebung der »himmlischen« Seite in uns.
Nicht nur im Umgang mit uns selbst sind Bewusstheit und Einsicht wichtige Schlüssel, sondern auch in der Begegnung mit anderen Menschen. Die Schattenseiten anderer auszuhalten ist wohl eines der schwierigsten Dinge im Leben. Wenn wir jemanden neu kennen lernen, projizieren wir oft unbewusst unsere idealisierte Wunschvorstellung auf unser Gegenüber. Die Schattenseiten und das Potenzial der »Hölle« im anderen Menschen werden nur zu gerne ausgeblendet, was dann nach einer Weile häufig zu einem bösen Erwachen führt, wenn wir plötzlich damit konfrontiert werden. Wie kann man damit umgehen, wenn man |223| eine gewachsene Freundschaft oder Beziehung auf gute Weise erhalten will? Vielleicht, indem man sich der eigenen (wenn auch nur verborgenen) »Hölle« im obigen Sinn bewusst ist und indem man versucht, dem Freund nicht nachzutragen, was einem von dessen dunkler Seite getroffen hat, und sich im Gegenzug all das immer wieder in Erinnerung bringt, was einem vom »Himmel« im anderen begegnet ist. Etwa wie in der Geschichte von den beiden Freunden:
Zwei Freunde wanderten durch die Wüste. Während der Wanderung kam es zu einem Streit, und der eine schlug dem anderen im Affekt ins Gesicht. Der Geschlagene war gekränkt. Ohne ein Wort zu sagen, kniete er nieder und schrieb folgende Worte in den Sand:
»Heute hat mich mein bester Freund ins Gesicht geschlagen .«
Sie setzten ihre Wanderung fort und kamen bald darauf zu einer Oase. Dort beschlossen sie beide, ein Bad zu nehmen . Der Freund, der geschlagen worden war, blieb auf einmal im Schlamm stecken und drohte zu ertrinken. Aber sein Freund rettete ihn buchstäblich in letzter Minute.
Nachdem sich der Freund, der fast ertrunken war, wieder erholt hatte, nahm er einen Stein und ritzte folgende Worte hinein:
»Heute hat mein bester Freund mir das Leben gerettet .«
Der Freund, der den anderen geschlagen und auch gerettet hatte, fragte erstaunt: »Als ich dich gekränkt hatte, hast du deinen Satz nur in den Sand geschrieben, aber nun ritzt du die Worte in Stein. Warum?«
Der andere Freund antwortete: »Wenn uns jemand gekränkt oder beleidigt hat, sollen wir es in den Sand schreiben , damit der Wind des Verzeihens es wieder auslöschen |224| kann. Aber wenn jemand etwas tut, was für uns gut ist, dann können wir es in einen Stein gravieren, damit kein Wind es jemals auslöschen kann.«
Fragen zum Nachdenken
Wann haben auch Sie schon mal, wie der Samurai, »Hölle« und »Himmel« in sich erfahren?
Welche »Schläge« anderer könnten Sie besser »in den Sand schreiben«, statt sie weiter nachtragend mit sich herumzuschleppen?
Welche Taten anderer könnten Sie noch besser »in Stein ritzen«, um sie nie zu vergessen?
225
228
225
228
false
|225| Probleme lösen
Nicht selten begegne ich der Frage, wie ich zu den Lügengeschichten meines Vorfahren, Hieronymus von Münchhausen stehe. Und in der Tat: Abgesehen von ihrer offensichtlichen Unwahrheit und dem teilweise völlig überzogenen Fantasiegehalt enthalten sie einige anschauliche Metaphern mit inspirierendem symbolischen Gehalt. Vor allem das Bild, »sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen«, kann dafür stehen, zunächst immer zu versuchen, die eigenen Probleme selbst zu lösen, und nicht automatisch zu erwarten, dass andere einem helfen. Was physikalisch natürlich nicht möglich ist, ist psychologisch durchaus machbar. Selbstverständlich gibt es Probleme, die ohne die Hilfe anderer nicht lösbar sind, zum Beispiel bei Unfällen, Krankheiten und manchen Angelegenheiten, die Expertenwissen erfordern. Doch entscheidend ist die Grundhaltung, zunächst für sich selbst sorgen zu können, die Verantwortung für sich zu übernehmen und – soweit möglich – sich am eigenen Schopf (mit eigenen Mitteln) aus dem Sumpf seiner Probleme zu ziehen. Wer das im Leben gelernt hat, kann auch besser anderen helfen, und in der Regel auch erst dann. Der chassidische Rabbi Shelmo soll gesagt haben:
Wenn du einen Mann aus Schlamm und Dreck herausholen willst, glaube nicht, dass es genug wäre, oben zu stehen und ihm eine helfende Hand herunterzureichen. |226| Du musst selbst den ganzen Weg von Schlamm und Dreck hinuntergehen. Dann ergreife ihn mit starken Händen und ziehe ihn und dich selbst heraus ins Licht.
In den meisten Fällen ist es wirklich schwer, wenn nicht gar unmöglich, Probleme anderer zu lösen
Weitere Kostenlose Bücher