Auszeit
beziehungsweise ihnen bei deren Lösung zu helfen, wenn man diese Probleme nicht selbst durchlebt und zu lösen gelernt hat. So sind auch oft die besten Lehrer und Dozenten nicht die, die ihr Fach mühelos mit Spitzennoten abgeschlossen haben, denn sie kennen selten die wirklichen Probleme, Mühen und Ängste der meisten Schüler oder Studenten. Der Überflieger kann den Weg durch die Täler, die er nur überflogen hat, schlecht weisen. Vielmehr sind die besten Didaktiker oft diejenigen, die selbst mit der Materie gerungen und die Schwierigkeiten erfahren haben, sich den Stoff anzueignen. Nachdem sie alle realen und psychologischen Hindernisse dieses Lernprozesses gemeistert haben, können sie nun andere an die Hand nehmen, um ihnen durch die »Sümpfe« des jeweiligen Studiums zu helfen. – Grundsätzlich hat auch jeder gute Therapeut selbst viel therapeutische Arbeit in eigener Sache bewältigt, bevor er anderen helfen kann, mit den Wirren und Problemen der Psyche und des Seelenlebens klarzukommen.
Natürlich gilt das nicht in allen Bereichen: Ein guter Arzt muss keineswegs alle Krankheiten erlitten haben, die er an seinen Patienten heilen will. Dennoch: Jede Schwierigkeit, die man gemeistert hat, jedes Problem, das zu lösen man gezwungen war, jeder »Schlamm«, durch den man gegangen ist, befähigt einen mehr, auch andere mit starken Händen herauszuziehen. Damit soll keineswegs die Schwere einer Krise oder die Tragik des »Im-Sumpf-Steckens« gemildert oder beschönigt werden. Doch kann es einen Funken Hoffnung und Mut geben, wenn man weiß und erfahren hat, dass gerade diese Zeiten und inneren Prozesse einen stark machen im Leben – für einen selbst |227| und für andere. (Mehr zu diesem Aspekt finden Sie im Kapitel »Schicksalsschläge«, S. 159.)
Fragen zum Nachdenken
In welchen Bereichen gelingt es mir gut, mich »am eigenen Schopf aus dem Sumpf« meiner Probleme zu ziehen?
In welchen Angelegenheiten kann ich aufgrund eigener Erfahrung mit den jeweiligen Problemen anderen Menschen gut helfen?
Welche Krisen im Leben haben mich stark gemacht?
229
232
229
232
false
|229| Das Wesentliche erkennen
Nicht wenige Menschen ließen sich im Laufe der Geschichte und lassen sich noch heute von Rang und Namen beeindrucken. Wer in einer wichtigen Position ist oder mit den entsprechenden Titeln daherkommt, dem öffnen sich weltweit die Türen. Ganz anders in der folgenden Geschichte:
Keichu, der große Zen-Lehrer der Meiji-Ära, war das Oberhaupt von Tofuku, eines Tempels in Kyoto. Eines Tages besuchte ihn der Gouverneur von Kyoto zum ersten Mal.
Sein Assistent präsentierte die Visitenkarte des Gouverneurs , auf der stand: Kitagaki, Gouverneur von Kyoto.
»Mit dem Burschen habe ich nichts zu schaffen«, sagte Keichu zu seinem Assistenten. »Sage ihm, er soll verschwinden .«
Der Assistent brachte die Karte mit Entschuldigungen zurück.
»Das war mein Fehler«, sagte der Gouverneur und strich mit einem Bleistift die Wörter »Gouverneur von Kyoto« durch. »Frage deinen Lehrer noch einmal.«
»Oh, ist das Kitagaki?«, rief der Lehrer aus, als er die Karte sah. »Den Burschen möchte ich sehen.«
Den Menschen will er sehen, den einfachen Menschen Kitagaki, nicht den Titelträger, den Gouverneur von Kyoto. Allerdings |230| handelt es sich um Keichu, den Zen-Lehrer, den Vertreter gelebter Weisheit. Ganz anders fallen sicherlich das Streben und die Beurteilung im normalen Alltag aus. Wie viel Energie investieren doch unzählige Menschen, um »Gouverneur von Kyoto« zu werden, egal ob auf beruflichem, politischem, künstlerischem oder sportlichem Aktionsfeld. Und wenn sie dies erreicht haben, wird viel zusätzliche Energie darauf verwendet, diesen Titel auch entsprechend nach außen kundzutun. Erstaunlich? Eigentlich nicht, wachsen doch die meisten von uns in einer Gesellschaft auf, die andere in erster Linie nach Titeln und Erreichtem bewertet. Da ist es oft nicht leicht, seinen Selbstwert als »bloßer Mensch«, als Michael, Eva oder Kitagaki zu spüren und ohne sonstige Leistung oder Position anerkannt zu werden. Steigt nicht schnell das Interesse, wenn einem auf der Party der Vorsitzende von XY vorgestellt wird? Und wird »Frau Professor Dr. Dr.« oder »Graf von und zu« von der Vorzimmerdame nicht schnellstens zum Chef weiterverbunden? – Ja, so ist es nun mal, und es soll hier auch gar nicht darum gehen, dies anzuprangern, denn nahezu alle Versuche der Vergangenheit, das generell zu ändern, sind mehr
Weitere Kostenlose Bücher