Auszeit
Wertungen wenn schon nicht mehr unser Überleben, so doch unser Wohlergehen abzuhängen scheint?
Gleichzeitig gehören Bewertungen und Verurteilungen zu den Grundursachen, die im Umgang der Menschen miteinander zu vielen Konflikten, Kriegen und Auseinandersetzungen geführt haben. Im Namen des jeweils »rechten Glaubens« sind unzählige »Falschgläubige« weltweit auf Scheiterhaufen ums Leben gekommen oder wurden zu Tode gesteinigt. Selten ist es den Menschen an den Schalthebeln von Macht und Einfluss gelungen, Andersdenkende ohne Bewertung oder Verurteilung einfach zu tolerieren und zu respektieren. Und dies gilt genauso im Umgang mit uns selbst: Der griechische Philosoph Epiktet schrieb vor bald 2000 Jahren in seinem Buch vom geglückten Leben :
Sache des Unwissenden ist es, andere wegen seines Missgeschicks anzuklagen;
Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen ;
Sache des Weisen, weder einen anderen noch sich selbst anzuklagen.
Doch genau die Menschen, die diese Fähigkeit haben, sind Gold wert. Ob als Mächtige, Mönche oder ganz normale Alltagspersonen. Menschen, die andere nicht bewerten, beurteilen oder gar verurteilen, haben eine ausgesprochen wohltuende Wirkung auf ihre Umgebung. Denn Bewertungen und Abwertungen können wie Schläge sein, die andere tief verletzen. Erst wenn wir einfach |35| so sein können, wie wir sind, ohne Angst, be- oder verurteilt zu werden, können wir innerlich aufatmen und uns frei fühlen.
Doch wie schwer ist es, etwas anzuschauen, ohne es sofort zu bewerten? Um unser Überleben zu sichern, hat uns die Natur mit einem Bewertungsautomatismus ausgestattet, der alles um uns herum ständig prüft und beurteilt in +, – oder 0. »Gut, schlecht, neutral, schlecht, gut, gut, sehr gut, neutral, sehr schlecht …«, so tickt es dauernd in unserem Kopf, und meistens ohne, dass wir es bemerken. Freiheit dagegen beginnt, wo wir Geschehnisse bewusst anschauen können, ohne sie zu bewerten.
Wie geht das? Wie können wir es schaffen, aus diesem unbewussten Automatismus auszusteigen? Drei Schritte können dabei helfen:
Die eigene Bewertung bewusst wahrnehmen . Oft halten wir unsere Kommentare für die Feststellung von Tatsachen und merken gar nicht, dass wir etwas bewerten. »Böser Vogel« würden vielleicht die ersten beiden Mönche geantwortet haben, »aber der ist doch böse, wenn er den armen Fisch schnappt und damit davonfliegt!« – Mag sein, dass dieser Vorgang nicht mit ihrem Wertesystem vereinbar ist. Dennoch ist es die Bewertung eines an sich völlig neutralen und natürlichen Geschehens.
Das Geschehen nüchtern und sachlich benennen . »Ein Seeadler fängt einen Fisch und fliegt damit davon.«
Die eigenen Gefühle dazu wahrnehmen : Die Empörung darüber, der Ärger, der Zorn, das Mitgefühl oder auch in anderen Fällen die eigene Freude, die Faszination, das Begehren, die Sehnsucht. In ihnen kommt das eigene Wertesystem zum Ausdruck. Dann könnte einer der Mönche bewusst sagen: »Wenn ich sehe, wie der Seeadler den Fisch fängt, fühle ich Mitleid und Zorn, denn der Stärkere sollte den Schwachen schonen.« Die Kunst besteht darin, auch die eigenen Gefühle |36| nicht zu werten, sondern einfach mit neugierigem Interesse zu erforschen und anzuschauen. »Aha, interessant, wenn ich das sehe, dann erlebe ich Ärger und Wut.«
Das ist keineswegs einfach und mag am Anfang vielleicht etwas künstlich erscheinen, doch ist es ein entscheidender Weg zu bewusster Selbstwahrnehmung und zur Selbstreflexion über das eigene (uns meist unbewusst steuernde) Wertesystem. Wenn wir es hin und wieder schaffen, einfach wahrzunehmen, ohne es sofort zu bewerten – oder zumindest die eigene automatische Wertung zu erkennen –, dann »bleibt auch unser Mantel im Wind stehen«.
Das heißt keinesfalls, die eigenen Werte aufzugeben oder überall tatenlos zuzusehen. Wenn ich sehe, wie ein Junge dabei ist, einer alten Frau in der U-Bahn die Geldbörse aus der Tasche zu ziehen, werde ich höchstwahrscheinlich sofort handeln. Doch es ist nicht notwendig, den Jungen dabei innerlich zu verurteilen – das ist allenfalls später Aufgabe des Richters. Wahrscheinlich werde ich auch Empörung über den Jungen und Mitleid mit der Frau empfinden. Doch um souverän zu handeln, bedarf es nicht der Bewertungen: »böser Junge – arme Frau«. Erstaunlicherweise würde diese Beurteilung sich bei vielen auch sofort auflösen, wenn sie erführen, dass der Junge das Geld aus Not entwenden wollte,
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