Azazel
daß ich gerade an eine schöne Frau namens Holunderbeere Muggs denken mußte.«
»Holunderbeere?« fragte ich ein wenig ungläubig.
Sie hieß tatsächlich Holunderbeere [sagte George]. Ich weiß nicht, warum ihre Eltern ihr diesen Namen gegeben haben. Vielleicht haben sie sich an einen zärtlichen Augenblick vor ihrer Hochzeit erinnert. Holunderbeere war der Meinung, daß ihre Eltern ein wenig mit Holunderwein beschwipst gewesen waren, während jener Begebenheit, der sie ihr Leben verdankte. Sie hätte es sonst im Leben womöglich gar nicht erst so weit gebracht.
Jedenfalls bat mich ihr Vater, ein alter Freund, bei ihrer Taufe den Paten zu geben, und ich konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen. Viele meiner Freunde sind von meiner vornehmen Erscheinung und meinem offenen und tugendhaften Antlitz so beeindruckt, daß sie sich in einer Kirche nur wohl fühlen, wenn ich an ihrer Seite sitze. Deshalb bin ich schon des öfteren Taufpate gewesen. Natürlich nehme ich diese Angelegenheit sehr ernst und bin mir der Verantwortung, die mit diesem Amt verbunden ist, durchaus bewußt. Deshalb bemühe ich mich in späteren Jahren auch um eine gute Beziehung zu meinen Patenkindern, besonders wenn sie von so überirdischer Schönheit sind wie Holunderbeere.
Ihr Vater starb, als sie gerade zwanzig geworden war, und wie das Schicksal es wollte, erbte sie ein beachtliches Sümmchen Geld, was ihrer Schönheit in den Augen der Welt selbstverständlich nicht abträglich war. Ich selbst bin natürlich darüber erhaben, viel Aufhebens um etwas so Nebensächliches wie Geld zu machen, aber ich hielt es für meine Pflicht, sie vor Mitgiftjägern zu schützen. Ich bemühte mich also noch stärker darum, unsere Beziehung zu pflegen und besuchte sie häufig zum Essen. Schließlich mochte sie ihren Onkel George über alles - wie du dir sicher vorstellen kannst -, und das kann ich ihr auch nicht verdenken.
Außerdem hatte Holunderbeere den Notgroschen, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte, gar nicht wirklich nötig. Sie war eine recht bekannte Bildhauerin geworden, und der künstlerische Wert ihrer Werke wurde durch den hohen Preis bestätigt, den sie bei ihrem Verkaut regelmäßig erzielte.
Ich persönlich konnte mit ihren Arbeiten wenig anfangen. Mein Kunstgeschmack ist eher ätherisch, und ich kann deshalb an Werken nichts finden, die sie zum Vergnügen jener Vertreter der ungebildeten Masse geschaffen hat, die sich ihre Preise leisten konnten.
Ich erinnere mich, daß ich sie einmal gefragt habe, was eine bestimmte Skulptur darstelle.
»Wie du siehst«, sagte sie, »trägt das Werk den Titel >Storch im Fluge<.«
Ich betrachtete das Objekt, das aus feinster Bronze gegossen war, etwas genauer und sagte: »Ja, ich habe das Schild gelesen. Aber wo ist der Storch?«
»Hier«, sagte sie und wies auf einen kleinen Metallkegel, der aus einem eher formlosen Bronzesockel herausragte und am oberen Ende spitz zulief.
Ich betrachtete ihn nachdenklich und sagte dann: »Ist das ein Storch?«
»Natürlich, mein alter Schnurzelbutz«, sagte sie (sie sprach mich immer mit solchen Kosenamen an). »Das ist die Spitze des langen Storchenschnabels.«
»Reicht das denn aus, Holunderbeere?«
»Vollkommen«, erwiderte Holunderbeere. »Nicht den Storch selbst will ich darstellen, sondern die abstrakte Vorstellung vom Storch an sich, und das ist genau das, was einem diese Skulptur vor Augen führt.«
»Tatsächlich«, sagte ich ein wenig ratlos, »jetzt, wo du's sagst. Aber auf dem Schild steht, daß sich der Storch im Fluge befindet. Wie soll das zu verstehen sein?«
»Aber Mausebärchen«, rief sie, »siehst du denn nicht diesen etwas formlosen Bronzesockel?«
»Ja«, sagte ich. »Er ist ja kaum zu übersehen.«
»Und du wirst mir sicher zustimmen, daß Luft - so wie überhaupt jedes Gas - eine formlose Masse ist. Nun, und dieser etwas formlose Bronzesockel ist eindeutig eine abstrakte Darstellung der Atmosphäre. Wie du siehst, befindet sich auf der Oberfläche des Sockels eine waagerechte schmale Linie.«
»fa. Jetzt wird mir alles klar.«
»Das ist die abstrakte Darstellung eines Fluges durch die Atmosphäre.«
»Bemerkenswert«, sagte ich. »Wie mir das alles deutlich wird, wenn du es erklärst. Wieviel wirst du denn für die Skulptur bekommen?«
»Ach«, sagte sie und winkte nachlässig ab, »zehntausend Dollar vielleicht. Es ist ein so einfaches und offensichtliches Werk, daß ich nicht wagen würde, mehr dafür zu verlangen. Es ist eher
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