BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
verlassenes Mädchen...
Dann ließ mich auch noch Aurel in dem Winter, in dem ich fünf wurde, im Stich. Tage vorher war mir drastisch klargemacht worden, dass Vater völlig in Lucrezias Bann stand. Und dass es nie wieder zwischen uns sein würde wie zu Zeiten unserer Wanderschaft – oder in den Nächten, da wir unter den Sternen und beschirmt vom Dach des Waldes eine beispiellose Vertrautheit zueinander aufgebaut hatten.
All dies zerrann nun wie trockener feiner Sand zwischen den Fingern.
Unaufhaltsam.
Als ich abends in meine Kammer hatte gehen wollen, sah ich Vater auf dem Flur.
Er hörte mich und drehte sich um. Offenbar hatte er nicht mich erwartet, denn er wirkte fürchterlich erschrocken.
Und ich erschrak auch.
Über sein Aussehen!
Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange ich ihn nicht mehr gesehen hatte.
Er war völlig abgemagert. Die Augen lagen tief in den Höhlen, auch die Wangen waren eingefallen. Die Knochen des Gesichts wurden von fahler, wächserner Haut überspannt. Seine Lippen waren nur noch dünne Striche.
Ich musste leise aufgeschrien haben, denn er zuckte abermals zusammen und wankte dann zögernd auf mich zu, öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
In diesem Augenblick kam
sie
aus ihrem Zimmer, fasste ihn am Arm und lenkte ihn dorthin, wo er seine meiste Zeit verbrachte: in Lucrezias Reich.
Ich wollte etwas rufen, streckte den Arm aus...
In diesem Augenblick drehte mir Lucrezia das Gesicht über die Schulter zu – und all meine Vorsätze erstickten unter ihrem gnadenlos kalten Blick.
Fröstelnd wandte ich mich ab, betrat meine Kammer, wie sie
ihr
Zimmer betraten.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf.
Ich dachte über alles nach. Jedenfalls über das Wichtigste. Und ich gelangte zu dem Schluss, dass ich keinen Tag länger in diesem Haus bleiben wollte.
Natürlich sann ich anfangs nach Wegen, wie ich Vater aus dem Bann dieser Frau befreien könnte. Doch nachdem ich mich eine Weile in einen Plan hinein gesponnen hatte, erwachte ich jedes Mal mit der ernüchternden Einsicht, dass er nicht realisierbar war. Ich hatte es zu oft erlebt: Vater war Lucrezia verfallen, war ihr hörig – und nach dem heute aufgefangenen Blick, wusste ich, was ich von ihr zu erwarten hatte, wenn ich auch nur den
Versuch
unternahm, ihr Vater abspenstig zu machen. Sie war zu allem fähig...
Ich nicht.
Ich fühlte mich matt und kraftlos, als ich am Morgen so tat, als verließe ich das Haus wie jeden Tag – als wäre ich nicht fest entschlossen, nie mehr wiederzukommen.
So schnell ich konnte, rannte ich zu Aurels Unterschlupf, einem Schuppen am Hafen, wo sich auch andere Kinder verkrochen.
Ruhig hörte er sich meine Erklärung an, mit der ich ihm beibrachte, dass ich von heute an
bei ihm
leben wollte.
Nach all den Enttäuschungen machte ich mich auf Ablehnung gefasst.
Aber er war so lieb, so einfühlsam, nahm mich in den Arm und stellte keine Fragen, woher dieser plötzliche Entschluss rührte. Er meinte nur: »Dann werden wohl nur wir beide nach Afrika gehen – du und ich. Das könnte mir gefallen...«
Und dann sagte er noch etwas, was Tage später eine makabre Bedeutung erhalten sollte – nur konnten weder er noch ich das in diesem Moment ahnen: »Sieht aus, als müsste ich nun für uns beide sorgen – na, es wird schon gelingen...«
»Ich habe etwas Geld«, sagte ich.
Und er lächelte: »Das werden wir für unsere Reise aufheben, du weißt schon...«
Wenn ich gewusst hätte, wie bald er tot sein würde.
Wenn ich es nur geahnt hätte...
13. Januar 1516
Es schneite, aber es war kein richtiger Schnee, nur nasse Pampe, die ins Schuhwerk drang, die Füße wie mit Eis ummantelte und seine Kälte in jeden Winkel des Körpers ausstrahlte.
Die Menschen waren noch mürrischer als sonst.
Seit Tagen ließ sich die Sonne nicht blicken. Der Himmel lag so tief, als versuchte er den Boden zu berühren.
Ich hatte Halsweh und Schnupfen, wohl auch ein wenig Fieber, und Aurel war unterwegs, um mir eine Arznei zu besorgen.
Mir war schwindelig, aber im Sitzen ging es, und so hockte ich vor einem Loch in der Verbretterung des Hafenschuppens und starrte aufs Meer hinaus.
Die Sicht war schlecht. Auch hier verhinderte ein nebliger Vorhang, dass man die Schiffe, die draußen ankerten, sehen konnte. Von manchen erkannte ich vage Umrisse, von anderen nichts oder nur die verschwommenen Flecke ihrer Positionslichter.
Ich saß einfach da und ließ meine Gedanken treiben.
In der letzten Nacht hatte
Weitere Kostenlose Bücher