Baltasar und andere Begegnungen und Geschichten aus Ecuador
Gruppe am Kraterrand auf dem Gipfel. Das anvisierte Ziel war erreicht, aber das eigentliche lag schon längst hinter mir. Der Weg auf den Gipfel war eine neue Erfahrung für mich gewesen, denn ich war noch nie zuvor auf solch einer Höhe gewesen. Auch das Erlebnis, sich dem Gipfel in der Nacht anzunähern, war für mich besonders gewesen.
So schön sich der Cotopaxi am Vortag in der strahlenden Sonne gezeigt hatte, so schüchtern verbarg er sich nun. Nebel war langsam aufgezogen. Der aktive Vulkan spie Schwaden von Schwefel in die kalte Luft. Es stank nach verrotteten Eiern, als wir am Kraterrand standen. Wir durften uns nur kurz auf dem Gipfel aufhalten, denn die aufgehende Äquatorsonne schien selbst durch den Nebel gnadenlos auf uns und den Schnee herunter. Trotz der Kälte und des Nebels spürten wir die Wucht der Strahlung.
Ingos Kraftakt, zusammen mit den Bergführern seine Ski und Skistiefel über Stunden auf den Gipfel zu tragen, fand sein Ende. Ingo machte sich fürs Skifahren fertig, glitt über den Schnee und hauchte damit seiner ungewöhnlichen Idee »Skifahren vom Gipfel des Cotopaxi « Leben ein. Er fuhr auf Ski, während wir anderen zu Fuß abstiegen.
Nach einer halben Stunde Abstieg kam uns der Weg unerwartet schwierig und gefährlich vor. Ingo stoppte auf seinen Ski vor tiefen Gletscherspalten und gigantischen Höhlen mit meterlangen Eiszapfen, die unsere Bergführer anscheinend vorher auch noch nie gesehen hatten. Unsere Frage, ob das Streifen scheinbar brüchiger Gletscherspalten, das Durchwaten von Schwimmschnee und das Einsacken bis zur Hüfte geplant gewesen seien, bejahten sie selbstsicher. Doch ihr ungläubiger, fast panischer Blick in alle Richtungen verriet etwas anderes. Ihre Aussage »We know exactly where we are!« wurde in den nächsten Stunden zum Lippenbekenntnis und spaltete unsere Gruppe in zwei Lager: die Gläubigen und die Ungläubigen. Es war offensichtlich, dass unsere Bergführer sich mit uns verlaufen hatten. Ein diffuses Licht schien durch den Nebel und begrenzte den Blick auf wenige Meter. Sie hatten sich nur auf ihre jahrelange Erfahrung verlassen und wir uns dummerweise auf sie. Unsere Bergkarte, den Kompass und das GPS hatten wir deshalb zurückgelassen. Nun lagen sie nutzlos und weit weg im Camper.
Mittlerweile stand die Sonne hoch. Wir befanden uns in Ecuador am Äquator, wie der Landesname verriet. Die Sonne stand im Zenit und ließ den Schnee unter unseren Füßen unerbittlich wie Butter schmelzen. Die Lawinenlage war lebensgefährlich und wurde mit jeder Stunde kritischer. Der Schnee war weich und konnte aufgrund der steilen Vulkanhänge leicht abrutschen. Die in der Vergangenheit bereits abgegangenen Lawinen türmten sich zu weißen Massen vor uns auf. Wir mussten mittendurch gehen. Bei jedem Schritt reichte uns der Schnee mindestens bis zu den Knien, aber meistens bis zur Hüfte. Mit jeder verstrichenen Stunde sackten wir tiefer ein. Immer wieder wurde das schwere Gepäck neu auf alle verteilt und Mut zugesprochen.
Bei Ingo nahm die Anspannung durch sein Wissen um die Gefahr besonders zu. Er hatte früher als Skilehrer viele Monate in den Bergen verbracht und konnte die Gefahr nur zu gut einschätzen: Sie war an diesem Ort zu diesem Zeitpunkt des Tages lebensgefährlich.
Einmal konnte Ingo den zweiten Bergführer vor dem Sturz in eine Gletscherspalte am Sicherungsseil zurückziehen. Der Bergführer stand kurz davor mitsamt der Rettungsausrüstung in die Tiefe zu verschwinden, weil die von ihm betretende Schneebrücke die Stabilität durch die Sonne längst eingebüßt hatte. Unsere imaginäre Nabelschnur zu den Bergführern kam uns immer mehr wie die Verlängerung eines Galgenstricks vor.
Mit jeder unüberlegten Bewegung der Bergführer in Richtung Gletscherspalten verschwand unser Vertrauen. Wir hörten auf, nur kopflos zu folgen, sondern prüften jeden Schritt selbst. Wir wussten, dass eine Bergrettung auf dieser Höhe unwahrscheinlich war. Da half auch keine deutsche Bergrettungsversicherung, die wir standardmäßig abgeschlossen hatten. Es war ein Zettel ohne Bedeutung. Die Anden waren nun mal nicht die Alpen und das hatten wir auch vorher gewusst.
Nach sechs Stunden des Abstiegs hatten wir es endlich geschafft. Wir stolperten aus den lebensgefährlichen Lawinenfeldern des Cotopaxi heraus und fanden uns in einer der Endmoränen des Gletschers wieder, die scheinbar noch nie eine Menschenseele gesehen hatten. Auch unsere Bergführer erkannten keine
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