Bamberger Verrat
Prolog
Das kleine Mädchen hatte Angst. Ein schweiÃnasses Händchen hielt die Hand der Mutter ganz fest. Lotte hatte sie auch dann nicht losgelassen, als Mutti den schweren Koffer, den sie mit der linken Hand trug, in die rechte hatte nehmen wollen. Auch Lottes eigenes Köfferchen wurde schwerer und schwerer, als sie durch das hohe Gras den Hang hinuntergingen, und der Rucksack drückte auf ihre Schultern. Neben Mutti ging Vatis Freund, der in den letzten Tagen so oft bei Mutti gewesen war. Lotte mochte ihn nicht; er stank nach Rauch und sah Mutti immer so komisch an. Er trug ihren zweiten Koffer und auch einen Rucksack. Warum hatte er so wenig dabei, obwohl er doch auch fliehen wollte? Er wolle ihnen bei der Flucht helfen, hatte er zu Mutti gesagt, und mit ihnen gehen. Vor neun Monaten war Vati in den Westen gegangen, und sie hatten Weihnachten und Lottes neunten Geburtstag ohne ihn feiern müssen. Schlimm war das gewesen. Aber heute würde sie ihn wiedersehen. Er werde sie an der Grenze abholen, hatte Vatis Freund gesagt, als er sie mit seinem Auto über Feldwege tief in den Wald gefahren hatte, bis zu dieser Wiese, an deren Fuà ein kleiner Fluss die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland bildete.
Es war ganz still. Ein letzter Rest von Tageslicht schwamm noch über den Gräsern an diesem warmen Augustabend, aber unter den Bäumen und Büschen am Waldrand hockte schon die Nacht. Lotte hatte das Gefühl, als ob tausend Augen sie von dort aus beobachten würden, Räuber oder Gespenster. Denn am tiefen Grund der Wiese, nah am Bach, lag das »Grab des Wilddiebs«, von dem im Dorf Schauergeschichten erzählt wurden, dass der Dieb mit blutigem Schädel und leeren Augenhöhlen manchmal aus dem Gebüsch hervorbreche und Pilz- und Beerensammler erschrecke.
Doch jetzt tauchte Vati auf dem gegenüberliegenden Hang auf. Trotz der Dämmerung konnte Lotte ihn genau sehen. Sie winkte und lachte. Er sah genauso aus wie früher, bloà noch besser in diesen blauen Hosen, die sie Jeans nannten. Sein blondes Haar leuchtete über seinem dunklen Hemd. Er winkte zurück und kam den Hang heruntergesprungen und war schon fast am Bach.
Lotte wollte ihm entgegenlaufen â es trennten sie ja nur noch wenige Meter â, da sagte Vatis Freund leise und scharf zu ihr: »Bleib stehen!« Dann rief er: »Komm doch her, Franz, und hilf uns mit den Koffern!«
Vati sprang mit einem groÃen Satz über den Bach und rannte über den fünf Meter breiten Streifen zwischen dem Ufer und dem Stacheldrahtzaun. Der war nicht besonders hoch und endete am rechten Rand der Wiese neben dem Stein, der das »Grab des Wilddiebs« markierte. Dahinter begann dichtes Gebüsch. Doch zwischen dem Zaun und den Büschen gab es eine schmale Lücke, durch die sich Vati jetzt geschickt zwängte und auf sie zueilte. Er lächelte Lotte an, doch er hob sie nicht hoch wie früher immer, sondern griff hastig nach Muttis Koffer und wandte sich gleich wieder ab, um zum Zaun zurückzugehen.
In diesem Moment trat ein schwarzer Mann aus dem Gebüsch hinter dem Wilderergrab. Lotte schrie, ins Herz erschrocken. Er hielt ein Gewehr in der Hand, und dann sah Lotte, dass er eine Uniform trug. Und im selben Augenblick kamen überall aus dem Wald Polizisten und liefen auf sie zu.
Vati lieà den Koffer fallen und begann zu rennen. Sein Freund versuchte, ihn festzuhalten, aber Vati riss sich los, hechtete mit einem grausamen Sprung über den Stacheldraht und stürzte zum Bach.
Der Polizist mit dem Gewehr brüllte: »Halt! Stehen bleiben!« Und dann schoss er.
Vati stieà einen entsetzlichen Laut aus, taumelte noch ein paar Schritte und fiel ins Wasser. Mit dem Oberkörper lag er auf dem westlichen Ufer und versuchte verzweifelt, seine Beine, die ihm nicht mehr gehorchten, auch auf dieses Ufer zu ziehen.
Aber da waren die Polizisten schon bei ihm und schleppten ihn zurück durch den zerschnittenen Zaun und weiter den Hang hinauf. Zwei Polizisten packten Mutti am Arm. Sie wehrte sich nicht. Aber bevor sie sie wegführten, schaute sie Vatis Freund an und sagte mit einer Stimme, die Lotte ganz fremd vorkam: »Du Ratte, du miese Ratte!«
1
Ein schwarzer Vogel setzte sich auf die Brust des Mannes, der still auf den Stufen vor dem König-Ludwig-Denkmal im Bamberger Hain lag. Er legte den Kopf schief und visierte mit einem glänzenden Auge dessen silbernen
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