Belladonna
nicht.»
«Er ist eben... » Sie hielt inne. «Er hat es nicht gern, wenn sie mit anderen Leuten spricht, okay? Er, also er hat wahrscheinlich Angst, sie könnte herausfinden, dass es bessere Jungs als ihn gibt. Das vermute ich zumindest. Julia ist ihr ganzes Leben lang irgendwie behütet worden. Sie weiß nicht, wie man sich vor solchen Kerlen in Acht nimmt.» Wieder hielt sie inne. «Er ist kein schlechter Kerl, aber er klammert, wissen Sie? Er muss immer wissen, wohin sie geht, mit wem sie unterwegs ist, wann sie wiederkommt. Er mag es überhaupt nicht, dass sie sich Zeit für sich nimmt.»
Lena sprach noch immer leise. «Er hat sie aber nie geschlagen, oder doch?»
«Nein, so nicht.» Wieder schwieg das Mädchen. Dann sagte sie: «Er hat sie nur oft angeschrien. Manchmal, wenn ich von einem Seminar zurückkam, dann horchte ich erst an der Tür, verstehen Sie?»
«Ja», sagte Lena, «um sicherzugehen.»
«Genau», stimmte Jenny zu und gestattete sich ein nervöses Kichern. «Also, einmal hab ich ihn hier drinnen gehört, und er war richtig fies zu ihr. Hat die gemeinsten Sachen gesagt.»
«Wie gemein?»
«Zum Beispiel, dass sie schlecht ist», sagte Jenny. «Dass sie in die Hölle kommen würde, so schlecht sei sie.»
Lena nahm sich Zeit, bis sie die nächste Frage stellte. «Ist er religiös?»
Jenny gab einen abfälligen Ton von sich. «Wenn es ihm in den Kram passt. Er weiß, dass Julia religiös ist. Sie steht echt auf Kirche und alles. Ich mein, als sie noch zu Hause war. Hier geht sie nicht oft hin, aber sie redet immer davon, dass sie im Chor ist und eine gute Christin und solche Sachen.»
«Aber Ryan ist nicht religiös?»
«Nur wenn er meint, damit bei ihr was erreichen zu können. Zum Beispiel sagt er, er ist echt religiös, aber er hat alle möglichen Piercings und trägt ständig Schwarz, und er -» Sie hörte zu reden auf.
Lena senkte wieder die Stimme. «Was?», fragte sie, und dann sagte sie noch leiser: «Ich werd's niemandem weitersagen.»
Jenny flüsterte etwas, aber Jeffrey konnte nicht verstehen, was sie sagte.
«Oh», sagte Lena, als höre sie nichts Neues. «Die Kerle sind doch allesamt dämlich.»
Jenny lachte. «Sie hat ihm geglaubt.»
Lena fiel in ihr Lachen ein und fragte dann: «Was hat Julia denn getan, das so schlimm gewesen sein soll? Was meinen Sie? Dass Ryan sich so darüber aufgeregt hat?»
«Nichts», antwortete Jenny mit Nachdruck. «Das hab ich sie ja später gefragt. Sie wollte es mir aber nicht sagen. Sie blieb einfach den ganzen Tag im Bett liegen und hat keinen Ton gesagt.»
«Das war ungefähr zu der Zeit, als sie sich getrennt haben?»
«Ja», bestätigte Jenny. «Letzten Monat, wie ich schon sagte.» Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit, als sie fragte: «Sie glauben doch nicht, dass er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat, oder?»
«Nein», sagte Lena. «Da würde ich mir keine Sorgen machen.»
Jeffrey drehte sich um und fragte: «Wie lautet Ryans Nachname?»
«Gordon», informierte ihn das Mädchen. «Glauben Sie, Julia steckt in Schwierigkeiten?»
Jeffrey erwog ihre Frage. Er hätte ihr sagen können, sie brauche sich keine Gedanken zu machen, aber dann würde sich das Mädchen vielleicht in falscher Sicherheit wiegen. Er entschied sich für: «Das weiß ich nicht, Jenny. Wir werden jedenfalls alles tun, um sie zu finden.»
Ein kurzer Besuch im Geschäftszimmer klärte sie darüber auf, dass Ryan Gordon um diese Zeit Aufsichtsdienst im Lesesaal hatte. Das Gebäude der landwirtschaftlichen Fakultät befand sich am Rande des Campus, und Jeffrey merkte, dass seine Beklemmung mit jedem Schritt stärker wurde, der sie näher dorthin brachte. Er spürte auch die Spannung, die Lena erfasst hatte. Zwei Tage waren ohne brauchbare Spur vergangen. Jetzt konnte es tatsächlich sein, dass sie dem Mann gegenübertraten, der Sibyl Adams ermordet hatte.
Jeffrey hatte ganz und gar nicht damit gerechnet, auf Anhieb Ryan Gordons bester Freund zu werden, aber der junge Mann hatte etwas an sich, was Jeffrey von der ersten Minute an gegen ihn einnahm. Seine beiden Augenbrauen waren ebenso durchstochen wie beide Ohren, und auch seine Nasenscheidewand war von einem Ring durchbohrt. Dieser Ring sah schwarz und verkrustet aus, eher für einen Ochsen geeignet als für eine menschliche Nase. Jennys Beschreibung war nicht gerade freundlich gewesen, aber jetzt fand Jeffrey, dass sie höchst großherzig gewesen war, als sie ihn unreinlich genannt hatte. Ryan sah geradezu
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