Bergfriedhof
rechts, Jakob Burkhardt links. Nur, dass seit März 1945 eine andere Gleichung gilt: Hanjo Bünting links, der tote Jakob Burkhardt rechts. Eine ältere Dame mit bemerkenswertem Erinnerungsvermögen brachte mich darauf. Sie kannte weder Sie noch den Namen des Mannes rechts. Dafür war sie sich todsicher, dass der nicht der Vergewaltiger gewesen sein konnte. Nun fragt es sich, wieso man dem Gedächtnis einer 80-Jährigen mehr Glauben schenken sollte als einem der Führungskräfte der DACH, einem Mann von bislang tadellosem Ruf. Warum, Dr. Bünting? Die Antwort steht auf der Rückseite: Zur Erinnerung an Heidelberg. J.B. Nach Ihrer Version ist die Sachlage eindeutig: Der böse Jakob Burkhardt brachte das Foto aus Serbien mit. Einst hatte er es seinem Freund Hanjo Bünting gewidmet, in den hektischen Kriegstagen aber verpasst, es ihm zu geben.«
Ich spülte die immer rauer werdende Kehle.
»So weit, so gut. Nun fiel mir etwas auf: Sie haben Ihren Blankoscheck mit »Hanjo Bünting« unterzeichnet, wie Sie es seit Jahrzehnten tun. Leserlich sind nur die beiden Großbuchstaben H und B. Das H beginnt mit einem Schlenker, der jedem Graphologen Freude bereiten würde. Der gleiche Schlenker findet sich auf der Widmung: beim ersten Buchstaben von Heidelberg. Also haben Sie die Widmung geschrieben.«
Wenn er jetzt schwieg, würde er diese Erde schweigend verlassen. Ich sah den Alten an.
Er schwieg.
»Das fiel mir auf, und so sagte ich mir: Von Ihrem Busenfreund Heinzi werden Sie Jochen genannt, warum nicht auch von Ihrem Kriegskameraden? Dann steht J.B. für Jochen Bünting; Gruß an Jakob Burkhardt. Ein kurioser Zufall, aber warum nicht? Na, warum wohl nicht? Weil Sie selbst Jakob Burkhardt sind, darum nicht. Wenn man sich das einmal klarmacht, wenn man einmal der Oma und dem Serben glaubt, passt alles ineinander. Ist doch viel einleuchtender, dass Sie das Foto Ihrem Freund schenkten, der es behielt, als dass er es mit der eigenen Widmung über all die Jahre hinweg aufbewahrte. Und außer dem Dicken hat Sie wahrscheinlich noch nie jemand Jochen genannt. Vielleicht ist das kein Beweis, aber wir beide wissen, dass ich recht habe. Wir wissen es. Ein H zu viel, Burkhardt, das wars.«
Ja, das wars. Die Abenddämmerung warf lange Schatten ins Zimmer, ein kupferner Himmel wölbte sich über dem Rheintal. Max Koller war ein Fass ohne Boden, seine Kehle war mit Sandpapier ausgelegt, aber er hatte alles gesagt. Bloß Kapellmeister Wagner tat mir keinen Gefallen und wand sich und wand sich ... Egal. Ich hatte gesagt, was zu sagen war.
Oder blieb noch etwas?
Über Bünting-Burkhardt hinweg, den ich schon lange nicht mehr als Person wahrnahm, ließ ich meine Blicke über die kleine Familiengalerie an der Wand schweifen. Über all die bemitleidenswerten Opfer von Büntings Selbstherrlichkeit. Und kein einziges Frauenbild dabei.
»Falls es Sie interessiert: Ich werde das alles für mich behalten«, sagte ich, erschöpft und mit nachlassender Konzentration. »Ist ohnehin verjährt. Dass Ihre Biografie so und nicht anders beschaffen ist, müssen Sie mit sich selbst ausmachen. Wenn Sie können. Mir gleich. Sie werden es schon hinkriegen. Sie sind in Ihrer Dreistigkeit ja sogar zurück nach Heidelberg gekommen.« Ich wandte mich ihm noch einmal zu. »Hatten Sie eigentlich keine Angst, dem Mädchen wiederzubegegnen? Sie hätte Sie doch erkennen müssen.«
Bünting gab kein Lebenszeichen von sich. Er saß da wie ein abgestorbener Ast. Nicht ein Haar bewegte sich; das Abendlicht legte sich matt auf ihn. Holzwürmer klopften in seinen Schläfen. Und doch: Irgendetwas blinkte in seinen Augen wie Schadenfreude, ein letzter Rest Überlegenheit. Verrückt.
Rumms! Nun hatte auch die Wagner-Kiste ihren Frieden. Mit einem Gewittergrollen, das die Villa erzittern ließ, beschloss der Dirigent im Erdgeschoss das orchestrale Breitwandspektakel. Oper aus. Vorhang.
Und dann ...
Und dann verschlug es mir die Sprache. Die Spucke blieb weg, nichts ging mehr ... Mir wurde übel.
Ich stellte mein Glas ab und starrte das Stück Holz vor mir an. Voller Abscheu.
»Sie haben sie geheiratet«, krächzte ich. »Sie ... Sie Vieh! Sie haben sie tatsächlich geheiratet.« Ich hatte keinen Beweis, nichts, aber es war gar nicht anders möglich. Tristan und Isolde ... die Eltern Wagner-Verehrer ... angesehene Familie ... Er hatte sie geheiratet!
»Aber das ist doch ... Sagen Sie bloß nicht, die Matterns hätten gewusst, wer ihr Schwiegersohn ist. So etwas tun
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