Bergfriedhof
ich mich notfalls verteidigen konnte. Kein Gegenstand. Ich gehöre zu jenen Privatdetektiven, die keine Waffe besitzen. Und besäße ich eine, wäre sie nicht auffindbar. Oder defekt. So schnell bringt mich nichts aus der Fassung, aber in diesem Moment wäre mir sogar eine defekte Waffe recht gewesen. Irgendetwas, an dem ich mich festklammern, hinter dem ich mich verstecken konnte.
Was sollte ich tun? Stehenbleiben? Davonrennen? Das eine konnte ebenso falsch sein wie das andere. Vielleicht wartete der Mörder des alten Mannes hinter einem Grabstein, bis die Luft rein war. Oder er schlich bereits Richtung Friedhofsausgang, nagende Angst im Nacken, ein gejagtes, wildes Tier. Ich durfte das Tier nicht provozieren.
Also tat ich nichts. Ich wischte mir bloß die Finger im Gras ab und schaute mich nach allen Seiten um. Es blieb ruhig.
Obwohl ruhig nicht das richtige Wort ist. Erst wenn man darauf achtet, wenn man den Atem anhält, merkt man, was für ein Spektakel sich mitten in der Nacht auf einem einsamen Friedhof ereignet. Wie belebt so ein Totenacker ist: Mal knackt es, mal schwirrt etwas vorbei, Schatten zucken und greifen nach einem. In der Ferne schrie wieder das Käuzchen, und um mich herum rauschten die Laubbäume mit ihren zarten, jungen Blättern. Sie wisperten und flüsterten, aber ihre Unterhaltung war nicht für menschliche Ohren bestimmt.
Und dann gab es noch ein Geräusch: ein fernes Rumpeln und Ächzen. Unten fuhr die Straßenbahn aus Leimen durch die Rohrbacher Straße, Metall presste auf Metall, Funken sprühten. Sie existierte also noch, die Welt jenseits der Friedhofsmauern, die Zivilisation mit ihren Alltagsgeräuschen, vom Quietschen der Bremsen bis zum Hüsteln der Passagiere.
Meine Muskeln entspannten sich. Akute Gefahr schien nicht zu drohen. Ich lebte, ich atmete, ganz im Gegensatz zu dem armen Teufel vor mir auf dem Grab. Er lag da, als hätte er schon immer an dem Platz gelegen. Als gehörte er hierher. Hätte er sich keine schönere Stelle aussuchen können? Das hier waren so ziemlich die armseligsten Ruhestätten, die der Bergfriedhof zu bieten hatte. Eine lange Reihe roh behauener Steinplatten, am Kopfende jeweils ein Holzkreuz, auf den Platten selbst der Name, die Lebensdaten, hie und da ein frommer Spruch. Dahinter die nackte Felswand des Berges, davor ein schmaler, verwachsener Pfad, den ein niedriges Geländer zum Tal hin begrenzte. Die reinsten Armengräber.
Wie alt der Mann wohl war? 75? 80? Er hatte wirklich etwas von einem Penner, selbst wenn er nicht unbedingt verwahrlost wirkte, trotz seines Alkoholatems und des muffigen Kleidergeruchs. Nein, er sah eher aus wie ein Mann, der es aufgegeben hatte, sich um seine äußere Erscheinung zu kümmern.
Und das sollte mein Auftraggeber sein?
Das Alter mochte stimmen, aber sonst stimmte überhaupt nichts. Der Mann, der mich telefonisch zum Bergfriedhof beordert hatte, war von ganz anderem Kaliber gewesen. Ein Mann mit Geld, mit Übersicht und Selbstbewusstsein. Einer, der wusste, was er wollte. Der sich niemals unrasiert, in einem derart abgewetzten Anzug auf die Straße gewagt hätte. Obwohl man sich in solchen Dingen ja irren konnte. Die Stimme eines Menschen am Telefon verriet einiges, aber nicht alles.
Wie auch immer, mein Honorar war futsch. Ich hatte die Verabredung eingehalten, Punkt 11 auf dem Bergfriedhof, und der Einzige, den ich antraf, war nicht in der Lage, mir die versprochene Anzahlung zu leisten. Wie heißt es doch? Das letzte Hemd hat keine Taschen ...
Vielleicht fand sich etwas in den Taschen des Toten. Nachschauen kostete nichts.
»Ist er tot?«, fragte jemand hinter mir.
Ich fuhr herum.
Vor mir stand ein älterer Mann. Er musste sich auf Zehenspitzen angeschlichen haben: ein gut gebauter Senior in Kaschmirmantel und Hut, der offenbar sein Vergnügen an bizarren Auftritten hatte.
Ich sagte: »Wer sind Sie?« – weil mir nichts Besseres einfiel. Meine Stimme klang seltsam. Irgendwie krächzend.
Statt einer Antwort nieste der Alte. Er zog ein Stofftaschentuch aus einer Hosentasche hervor und schnäuzte hinein. Ich nutzte die kleine Pause, um ihn von Kopf bis Fuß zu mustern. Er war ein paar Zentimeter größer als ich, hielt sich kerzengerade, ein rüstiger Rentner mit klaren blauen Augen hinter der randlosen Brille. Unter der Hutkrempe lugten weiße Haare hervor. Sein faltiger Hals schmiegte sich in ein Seidentuch. Nur diese Falten und seine Haut verrieten, dass er die 70 bereits weit hinter sich gelassen
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