Berlin liegt im Osten (German Edition)
die staubigen Hunde, aber all die Flusskäfer und die kleinen Wasserscheusale waren unsere. Wir zogen die blassen Köcherfliegenlarven aus ihren Rohrgehäusen und trugen sie davon. (Wohin? Das weiß ich nicht mehr.) Wir jagten Babykröten, sammelten sie in einer Pfütze und spielten Pionierlager mit ihnen. Für die Feuerkäfer, die wir wegen ihrer schmucken rot-schwarzen Muster
Gardisten
nannten, arrangierten wir Kinderkrippen. Erst trieben wir sie in ein Glas, wo sie Brotkrümel essen sollten, was sie aber nicht taten, weil sie sich eigentlich von Kadavern ernähren. Dann improvisierten wir aus Blattwerk Betten für die Mittagsruhe. Die Gardisten wollten nicht in ihren Betten bleiben, also rissen wir ihnen die Beine weg und bedeckten die beinlosen Körper der Schlafenden behutsam mit Kleeblättern bis zum Hals. Wenn wir Lazarett spielten, dann bekamen die armen Gardisten Spritzen oder Nasentropfen aus einer Pipette. Die Käferköpfchen versanken in den Tropfen, und unter dieser Wasserlupe war gut zu sehen, wie ihre Fühler vor Schreck zuckten und zitterten.
So ungefähr stellte ich mir auch die Arbeit meiner Mutter im Lazarett vor, wo sie eine steif gestärkte Haube trug. Die Haube ähnelte einem Schornstein und ließ sich mit zwei Litzen zusammenbinden, die wie die Fühlfäden eines Insekts an Mutters Hinterkopf hingen.
Er darf nicht wieder in die Kaserne zurück! – Die Mutter rollte den Teig auf dem Tisch aus.
Die gemeinen Soldaten wohnten gewöhnlich in abgelegenen Kasernen und zeigten sich selten in unserer kleinen Siedlung, wo die Offiziere mit ihren Familien wohnten. Wir Kinder sahen die Soldaten selten. Sie erschienen immer in kleinen Scharen und ähnelten mit ihren schlammgrünen Uniformen großen, seltsamen Tieren. Die Gerüchte, sie würden untereinander grausam gegen Schwache vorgehen, verstärkten diese Ähnlichkeit. Die Schwächlinge versuchten dann im Sanitätshaus Zuflucht zu finden.
Er ist ein Soldat, und er gehört dazu. Und bei dir sind schon alle Betten mit Simulanten belegt!, erwiderte der Vater.
Er ist so provokant zahm, sie quälen ihn zu Tode, wie einen Käfer, sagte die Mutter, und auf dem bemehlten Fladen entwickelten sich dunkle Flecken, wie die ersten Tropfen eines Sommerregens auf einer staubigen Landstraße.
Mit den Tränen wirst du mir den Teig versalzen!, lächelte der Vater und schaute in die gegenüberliegende Küchenecke zu unserer Nachbarin, die auf ihrer weichen Wange noch einen rosafarbenen Abdruck der Kopfkissenfalten hatte. So blieben sie in meiner Erinnerung: Frau Kotov mit ihrem luftigen Schlafrock, Herr Kotov mit seiner
Zenit
. Die Kamera saß fest in einem harten, orangen Lederetui mit einer beweglichen Schnauze aus dickem, braunem Schweineleder.
Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn es diese Fotos nicht gäbe, denn sie besetzen den ganzen Platz der Erinnerung an Kema. Ich sehe zum Beispiel ein Fenster, in acht Kästen geteilt, aber ich weiß nicht mehr, wie das ganze Haus ausgesehen hat und wie viele es davon in Kema gab. Ein Dutzend? Und dazu einen Klub. Die unscheinbaren, runden Blumenbeete, bewachsen mit Beifußgras. Ein Lautsprecher auf einem hohen Mast. Wenn ich lange auf das Bild starre, weiß ich, dass an dem Mast vorbei die Schlange eines Kerosinrohres geschlichen sein muss. Auf ihrem Weg zum Flughafen lief sie durch die ganze Siedlung und verschwand im zerzausten Gras einer Brache mit den alten Fahrerhäusern. Ich kann die Speichen des Kinderwagenrades zählen, ich kann deutlich und bis ins Detail die entblößten Eingeweide eines Motorrads studieren, und ich sehe Vaters Hand auf dem Lenker. Der Vater selbst aber entkommt meinem Blick. Von ihm ist mir bloß diese Hand übriggeblieben. Und so ist meine Erinnerung an ihn fest an die Ohrfeige gebunden, die diese Hand einst auf meine Backe gestempelt hat. Es hat nicht wehgetan. Aber es war schmerzlich. Und ihm, meinem Vater, wäre es sicher ebenso schmerzlich, zu erfahren, dass seine Hand und die Ohrfeige in meinem Gedächtnis unzertrennlich geblieben sind. Denn er war gutherzig. So gutherzig wie uns alle Väter erscheinen, die uns zu früh verlassen.
Die Chefin kommt zurück und macht sich auch eine Tasse Kaffee.
Lena, Denis ist krank, du kannst heute Frau Gnuschke übernehmen, die in der fünften Etage, links. Frau Gnuschke ist sehr enttäuscht, dass ihr Denis nicht da ist, und unsere Zweisamkeit fällt für uns beide etwas quälend aus. Die alte Dame leidet an Inkontinenz, will aber auf keinen Fall
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