Besessene
genau wie sie gefühlt. Du kannst sein, wer du willst … lass dir von keinem etwas anderes einreden.«
Ich hatte mich jetzt etwa zehn Meter weit von der Böschung entfernt, und was ich vor mir sah, erschien mir völlig surreal: der Mond, der auf das Eis schien, die schemenhaften Bäume mit ihren verdrehten schwarzen Ästen, die sich vor uns verneigten, die gespenstische Gestalt von Genevieve, die über das Eis glitt, und schließlich ihre Stimme, die in der Stille widerhallte. Ich konnte nur Mut fassen und weitergehen, wenn ich mir sagte, dass diese Szenerie nicht wirklich war. Ich war noch immer Katy Rivers, ehemals Pfadfinderin, die jede nur erdenkliche Sicherheitsvorschrift kannte und sich niemals, niemals auf einen zugefrorenen See begeben würde, an dessen Ufer Schilder standen, die vor ›Tiefem Wasser‹ warnten.
Dann plötzlich hörte ich ein bedrohliches Geräusch, das die gespenstische Stille wie ein Peitschenhieb durchtrennte.
»Genevieve«, rief ich warnend, »das Eis – es bricht! Leg dich flach auf den Boden und verteil dein Gewicht.«
Ich war mir gar nicht sicher, ob das der richtige Ratschlag war, aber ich hatte ihn aus den Untiefen meines Gedächtnisses hervorgeholt.
»Ich komme dir entgegen«, rief Genevieve. »Ich wollte immer nur mit dir zusammen sein. Mein ganzes Lebenlang hab ich nach dir gesucht. Wir sind nicht wie die anderen, Katy, und was uns hier geschieht, bist du mir schuldig.«
Ich sah keinerlei Panik in ihrem Gesicht, aber ich wollte sie unbedingt trösten. »Du hast mir auch gefehlt, nur habe ich es nicht erkannt.«
»Hab keine Angst. Das hier ist nicht das Ende für uns beide … das weiß ich ganz bestimmt.«
Da hörte ich eine andere mir vertraute Stimme rufen, doch ich wagte nicht, mich nach ihr umzudrehen.
»Zurück, Katy! Geh langsam Schritt für Schritt zurück. Es ist nicht weit.«
Ich musste nicht eine Sekunde überlegen und rief ihr mit äußerster Bestimmtheit zu: »Ich kann sie nicht allein zurücklassen.«
Es waren die letzten Worte, die ich von mir gab, bevor wir ein grausames Knacken hörten und Genevieve unter der Eisdecke verschwand, so als hätte sich bei einem Erdbeben ein Spalt aufgetan. Ich achtete nicht auf Rebeccas verzweifelte Schreie im Hintergrund und zögerte nur wenige Sekunden. Noch stand ich auf beiden Beinen und die Alternativen lagen auf der Hand: Ich konnte mich auf festen Untergrund zurückziehen, solange es noch möglich war, oder versuchen, Genevieve zu retten.
Nichts auf der Welt hätte mich auf diese Kälte vorbereiten können. Sie war elementar, rein und schneidend und fuhr mit ihrer Grausamkeit durch meinen ganzen Körper. Sie raubte mir nicht nur von einem Moment zum anderen den Atem, sondern verwehrte es mir auch, danach noch weiter ein- und auszuatmen, bis jeder Nerv und jede Körperfunktionseine Tätigkeit einstellte. Meine Kleider wurden schwer vor Nässe und ihr bleiernes Gewicht zog mich nach unten. Ich dachte an die Sage von dem Greis, der die Reisenden mit einer List dazu bringt, ihn über den Fluss zu tragen. Sie willigen ein, aber er schlingt seine Beine wie einen Schraubstock um sie und wird schwerer und schwerer, bis sie ertrinken. Ich wehrte mich wahrscheinlich nur eine einzige Minute lang. Ich war nie eine gute Schwimmerin gewesen, genauso wenig wie Genevieve, und war erleichtert, als ich schließlich resignierte.
Das Wasser war erstaunlich klar und so fand ich Genevieve mühelos, deren Haare wie bei einer Meerjungfrau in alle Richtungen strömten. Sie wartete auf mich, wie eh und je, und ich legte meine Arme um ihren leblosen Hals. Ich hatte mir immer vorgestellt, es müsse hart sein zu sterben, aber es fiel mir überraschend leicht; weit in der Ferne lockte ein Licht und zog mich näher und näher zu sich heran. Dankbar bewegte ich mich darauf zu, von einer unsichtbaren Hand geleitet, als plötzlich das stille Wasser aufgewühlt wurde. Ein Hand packte mich und zerrte mich nach oben und ich wurde dem See in einem grausamen Akt der Wiedergeburt entrissen und über das Eis gezogen. Alles, wovor ich hatte fliehen wollen, erwartete mich dort am Ufer – Kälte, Ungewissheit, Kränkung, Verlust und Schmerz. Ich würgte und keuchte, überzeugt davon, dass meine Lungen geplatzt waren. Man rollte mich auf die Seite und ich spuckte Wasser.
Rebecca zögerte und ich spürte, was sie im Sinn hatte. Ich hielt sie am Arm fest. »Du kannst da nicht mehr reingehen.« Aber sie sah wild entschlossen aus und entzog
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