Bestien in der Finsternis
herrschaftliche Villa ihre Pracht.
Sie war alt. Wahrscheinlich
hatte sich vor hundert Jahren ein reicher Städter diese Zufluchtsstätte erbaut.
Dreistöckig wuchs sie aus der Landschaft, war äußerlich reiner Jugendstil und
innerlich großräumig. Es gab eine Terrasse mit Steinbrüstung, bemooste Treppen
in den Garten hinab, Steinfiguren in Hausnähe, hohe Fenster und burgähnliche
Giebel.
Eine rotweiße Markise spannte sich
über die Terrasse.
Vor der Garage stand ein
senfgelber Landrover.
„Er spielt nicht Indianer“,
sagte Tim. „Er übt Bogenschießen.“
„Jetzt schießt er auf
Scheiben“, knurrte Klößchen. „Aber ich wette, er zielt auch auf Tiere. Wer
einer greisen Oma die Ersparnisse klaut, dem traue ich Tiermord zu.“
„Gehen wir mal näher!“ Tim
stemmte eine Hand in die Hüfte. Mit der andern schob er sein Rennrad.
3. Bogenschütze mit
Vergangenheit
Das ist Zenke, dachte Tim. Oma
Habrechts Beschreibung gibt ihn wieder wie ein Foto.
Ein Jägerzaun trennte Straße
und Grundstück.
Tim hockte sich auf seinen
Rennradsattel und setzte einen Fuß auf den Boden.
Seine Freunde versammelten sich
bei ihm. Klößchen kippelte auf seinem Rad und stemmte einen Fuß gegen den Zaun.
Der Mann im Garten drehte ihnen
den Rücken zu. Aber Tim hatte das Gesicht gesehen.
Der Mann hielt einen
Compound-Bogen im ausgestreckten linken Arm — ein kraftstrotzendes
Technik-Paket, wie Tim wußte, bestehend aus Holz, Metall, Carbon und
ausgerüstet mit einem Flaschenzug.
Zwischen diesem Gerät, dachte
Tim, und dem Bogen des Odysseus besteht soviel Unterschied wie zwischen einem
Pferd und einer Weltraumrakete. Enorme Entwicklung der Technik.
Zenke — es konnte wirklich nur
Zenke sein — hatte einen Köcher mit Metallpfeilen umgehängt.
Auf einem Gartentisch lag ein
einzelner Holzpfeil. Tims scharfem Auge entging der Unterschied nicht — zumal
ihn das Bogenschießen interessierte.
Der Holzpfeil war signalrot —
mit mehreren schwarzen Kennzeichnungsringen am Schaft und weißer Befiederung.
Wobei die Befiederung natürlich nicht aus Naturfedern bestand, sondern aus
Weichplastik.
„Tor!“ meinte Klößchen.
Ein Aluminiumpfeil war von der
Sehne geschnellt und hatte die bunte Strohscheibe getroffen. Nicht ganz in der
Mitte, aber auch nicht am äußersten Rand. Die Scheibe stand etwa hundert Meter
entfernt.
Zenke drehte sich um. Ein
ungnädiger Blick traf die Jungs.
Der nächste Pfeil wurde
abgeschossen. Er traf noch besser.
„Tor!“ meinte Klößchen.
Wieder wandte Zenke sich dem
Zaun zu. Sein Blick dauerte zehn Sekunden.
Klößchen lächelte harmlos.
Zenke war hochgewachsen, hatte
grau-blonde Kräusellocken und ein eckiges Gesicht. Er wirkte angriffslustig —
wahrscheinlich auch wenn er schlief. Das rechte Ohrläppchen war durchstochen.
Ein goldener Reif spiegelte Sonnenstrahlen. Der Reif war nicht so groß wie anno
tobak bei Seeräubern. Aber man konnte ihn nicht überstehen. Zenke trug eine
weiße Leinenhose und ein blaues Seidenhemd, das am Rücken durchgeschwitzt war.
Eine Angewohnheit schien zu sein, daß er die Oberlippe hob und Zähne zeigte wie
ein wütender Hund.
Der nächste Pfeil schwirrte ab.
Blitzartig drehte Zenke sich
um. Ein finsterer Blick traf Klößchen.
Dem blieb das ,Tor!’ fast im
Hals stecken. Trotzdem sagte er: „Tor!“
„Wenn du nicht den Mund hältst,
kriegst du eins hinter die Löffel.“
Zenkes Stimme schnarrte
herrisch. Sie klang ein bißchen so, als würde er sich gleich räuspern und Rauch
ausblasen. Raucher war er jedenfalls.
In dem Aschenbecher auf dem
Gartentisch glimmte eine lange Zigarre vor sich hin. Ein dünner Rauchfaden
stieg in die Sommerluft.
Zenkes Drohung folgte
belastende Stille. Niemand rührte sich.
Das war Zenke zu wenig. Aber er
konnte sich noch steigern.
„Macht, daß ihr hier wegkommt!“
gebot er.
Dem ist wohl beim Bogenspannen
eine Gehirnader geplatzt, dachte Tim. Spielt sich auf wie der Landvogt vom
Ballungsgebiet. Nicht mal der Ministerpräsident würde sich zu solchen Befehlen
versteigen.
Als hätten sich die drei
abgesprochen, knipsten sie ein freundliches Lächeln an. Das war ihre einzige
Bewegung.
In diesem Moment entdeckte
Zenke, daß Klößchen sich mit dem Fuß am Zaun abstützte.
Befürchtete er verheerenden
Schaden? Oder gehörte er zu denen, die ihre Gebiet am liebsten mit Tellerminen
abgrenzen?
„Nimm den Fuß von meinem Zaun!“
brüllte er. Er legte sich den Bogen über die Schulter und kam
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