Bewegt Euch
für »Trimm Dich« warb. Seit überall Trimmy-Aufkleber prangten, empfand mein Vater seine morgendlichen Laufrunden als nationale Pflicht. Fragen nach Sinn oder Spaß oder orthopädischen Vorschäden wurden nicht gestellt. Video-Analysen gab es nicht mal bei Erich von Däniken. Stattdessen wurde gerackert, in ergonomisch fragwürdigen Schuhen. Kaum vorstellbar, dass eine öffentliche Kampagne heute so durchschlagen würde. Trimm-Dich-Pfade sind bemooste Zeugnisse einer Zeit, als das Land noch an die Macht der Vernunft glaubte.
Der gemeinsame Dauerlauf, mit dem mein Vater den Marsch befehl von Dr. Kortmann zu erfüllen gedachte, endete, noch bevor wir das trübe Wasser des Kanals gesehen hatten. Die Schnalle meiner linken Sandale war mit meinen weit ausholenden Schritten nicht fertiggeworden und einfach abgerissen. Gern hätte mein Vater mir Vorwürfe gemacht, aber es war objektiv Materialschwäche. Dass ich nach knapp zweihundert Metern total am Ende war, trotz des gemächlichen Spaziergang-Tempos, musste ich gar nicht erst mit Erschöpfungs-Darbietungen illustrieren.
Misstrauisch suchte mein Vater die Sandale nach Indizien ab, die auf Sabotage hinweisen würden. Aber ich schwöre, dass ich unschuldig war. Auch wenn mir die Idee gefiel. Ich humpelte also zurück nach Hause, während mein Vater seinen Dauerlauf erledigte. Pflichtsport. Meine Mutter tröstete mich mit kaltem Schoko-Pudding vom Vorabend. Besonders gern mochte ich die dicke Haut.
Nach Olympia und der Fußball-WM im eigenen Land, die uns einen Farbfernseher verschafft hatten, geriet der Sport in unserer Familie langsam wieder in Vergessenheit, zumal mein deutlich älterer Fußballstar-Bruder das elterliche Nest verlassen hatte. Kegeln, Kleingarten und das Rackern auf der Baustelle des Reihenhauses bedeuteten meinen Eltern Bewegung genug.
Mir bot der Radiorekorder von Telefunken ungeahnte neue Spielmöglichkeiten und die aufkommende Sweatshirt-Mode einen Gewinn an Lebensqualität. Ich sparte für ein Mofa, das mich von der Fron des Strampelns befreien würde. Endlich auch mobil, das war mein Traum. Mir fiel es nicht leicht, vor Freunden zugeben zu müssen, dass wir zwar ganz ordentliche Fahrrä der besaßen, aber eben kein Kraftfahrzeug. Meine Eltern besaßen nicht mal den Führerschein, weil sie als niedersächsische Ultrapragmatiker beschlossen hatten, von den nicht eben üppigen Einkünften eines Bundesbahn-Beamten jeden Monat ein paar Mark zur Seite zu legen, um sich eines Tages den Traum vom Eigenheim zu erfüllen. Ein VW-Käfer hätte diese Ersparnisse weggefressen. Automobil oder Immobilie, das war die Frage.
Heute betrachte ich die erzwungene Unbequemlichkeit jener Tage als historisches Abenteuer. Wenn wir in Urlaub fuhren, dann zunächst mit dem Rad zum Bahnhof. Bis heute bewundere ich meinen Vater, wie er den großen Koffer auf dem Gepäckträger über die Brücken, erst Umgehungsstraße, dann Kanal, gestrampelt hat. Er hätte als Rikschafahrer groß Kar riere gemacht. Noch akrobatischer war meine Mutter unterwegs. An jeder Lenkerseite hatte sie eine aus Lederflicken selbst genähte Reisetasche hängen, vorwiegend mit Proviant befüllt. Meine Eltern hatten den Krieg erlebt. Sie verreisten nie ohne Stullen, hart gekochte Eier und Schokolade, am liebsten Goldnuss von Aldi, die mit ganzen Haselnüssen.
Was für eine logistische Leistung: Die Räder waren getrimmt. Wie beim Flugzeug war alles Gewicht optimal balanciert, zunächst in den Behältnissen selbst, dann auf dem Rad. Die Beine allein sorgten für Vortrieb. Und für mich, den verwöhnten Furzknoten, war es völlig normal, von zwei Sherpas eskortiert zu werden. Ich hatte ja auch schwer zu tragen an meinem kleinen Rucksack mit dem Donald-Buch.
Nur selten geriet mein felsenfester Glaube an die Allmacht des Transportmittels Fahrrad ins Wanken. Ich hatte den Samstag mit meinem Vater im Kleingarten verbracht und Kartoffeln aus der Erde geklaubt, nicht eben freiwillig, sondern wegen der Zusage, dass wir hinterher zum Kinderfest auf dem Eisenbahner-Sportplatz gehen würden. Dort hing ich dann wie ein Baumpilz am Fuße eines Fahnenmastes, an dessen Spitze billige Spielzeuge baumelten, die es zu pflücken galt. Während sich die anderen Kinder amüsierten, weil meine Füße nie län ger als eine Sekunde den Boden verließen, hatte mein Vater den Gartendurst in der prallen Sonne mit ein paar schnellen Sturzbieren bekämpft.
Die Heimfahrt gestaltete sich deutlich kurvenreicher als normal.
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