Bis dein Zorn sich legt
eine Andacht bei den Laestadianern. Ungefähr ein Dutzend Erwachsene im Kreis um Hjalmar. Die Frauen stoßen leise Jammerrufe aus. Aber nicht zu laut, ihnen soll schließlich kein Wort entgehen. Kerttu jammert nicht. Sie ist weiß und starr wie ein Eiszapfen. Isak ist rot und verschwitzt, er ist vom Wald auf den Hof zurückgerannt.
»Jetzt erzähl, was mit Tore passiert ist«, befiehlt er.
Hjalmar presst die Wörter aus sich heraus.
»Der ist im Wald geblieben«, sagt er.
Die Erwachsenen umringen ihn. Sie sind wie schwarze Kiefern in der Sommernacht. Er ist einsam hier auf der Lichtung.
»Hast du ihn im Wald gelassen?«
»Er wollte nicht. Ich habe gesagt, er sollte mit mir mitkommen. Wir hatten uns verirrt. Er wollte nicht.«
Jetzt fängt er an zu weinen. Irgendeine Frau ruft: »Herran Jumala« , und schlägt die Hand vor den Mund.
Kerttu starrt Hjalmar an.
»Das ist die Strafe«, sagt sie zu Isak, ohne ihren Sohn aus den Augen zu lassen. »Er findet sich nicht zurecht.«
Dann dreht sie sich langsam um, genauso langsam, wie ein Eiszapfen sich bewegen würde, wenn er lebendig geworden wäre, und geht ins Haus.
»Bringt ihn weg«, brüllt Isak die Versammelten an. »Irgendwer soll ihn mit nach Hause nehmen, ehe ich mich an ihm versündige. Du hast ihn im Wald gelassen. Du hast deinen kleinen Bruder im Wald gelassen!«
Elmina Salmi nimmt Hjalmar mit nach Hause. Er sieht sich immer wieder nach seinem Elternhaus um. Der Vater hätte ihn mit dem Gürtel verprügeln können. Das wäre besser gewesen.
»Wann darf ich wieder nach Hause?«, fragt er.
»Weiß Gott«, sagt Elmina, fromm, wie sie ist. »Wir müssen beten, dass sie den armen Tore finden.«
Ich heiße Wilma Persson. Ich bin tot. Ich weiß noch nicht so recht, was das bedeutet.
Hjalmar Krekula kniet auf seinem Hofplatz und drückt sich Schnee ins Gesicht. Er will nicht mehr daran denken. Will überhaupt nicht denken.
Es reicht jetzt, es reicht jetzt, sagt er zu sich.
Ich sehe nach Anni. Sie liegt im Bett auf der Seite und schläft. Ihre Kleider hat sie ordentlich über einen Stuhl gehängt. Sie schläft mit einer Hand unter der Wange. Die Hand ist wie eine Schale, in der ihr Kopf ruhen kann. Die andere offene Hand liegt auf ihrem Brustkorb. Sie erinnert mich an den Fuchs. Wie der sich für die Nacht zusammenrollt. Sich in sich selbst aufrollt. Sich mit seinem eigenen Schwanz wärmt.
Die Polizistin Anna-Maria Mella liegt wach in ihrem Schlafzimmer. Ihr Mann hat ihr den Rücken zugedreht und schnarcht. Sie fühlt sich einsam und kann sich nicht, wie der Fuchs, selbst wärmen. Sie wäre froh, wenn er sie jetzt in den Arm nähme. Damit sie nicht so hilflos und wütend sein müsste. Heute hatte das Leben sich gegen sie verschworen.
Ich setze mich auf ihre Seite des Bettes. Lege die Hand auf ihr Herz.
Wenn du in seinen Armen schlafen willst, dann schmieg dich an ihn, sage ich ihr.
Und nach einer Weile rutscht sie hinüber auf Roberts Seite. Legt sich hinter seinen Rücken. Schlingt die Arme um ihn. Er wacht auf, aber nur gerade genug, um sich umzudrehen und sie in seine Arme zu schließen.
»Wie geht’s«, fragt er mit schlaftrunkener Stimme.
Sie antwortet: »Nicht gut.« Er streichelt sie, drückt sie an sich, küsst ihre Stirn. Zuerst denkt sie nur, verdammt, wieso musste ich darum betteln, mich an ihn ranschmiegen. Aber am Ende bringt sie es nicht mehr über sich, sich darüber zu ärgern. Sie entspannt sich und schläft ein.
Sonntag, 26. April
AM SONNTAG RIEF ein Mann auf der Wache von Kiruna an und behauptete, Informationen über die beiden Jugendlichen zu haben, die am Vorabend in den Nachrichten zu sehen gewesen waren. Er stellte sich als Göran Sillfors vor.
»Ich weiß ja nicht, ob das etwas Wichtiges ist«, sagte er, »aber Sie haben ja selbst gesagt, lieber einmal zu viel anrufen als einmal zu wenig, und da dachte ich …«
Die Zentrale stellte ihn zu Anna-Maria Mella durch.
»Und Sie haben ganz richtig gedacht«, sagte Anna-Maria Mella, als Göran Sillfors seinen Spruch zum zweiten Mal aufgesagt hatte.
»Ja, diese beiden. Die haben im Sommer doch auf dem Vittangijärvi gepaddelt. Wir haben da oben ein Häuschen. Ich habe ja schon der Regierung gesagt, dass nicht alle Jugendlichen einfach den ganzen Tag vor dem Computer sitzen. Die haben ihren Kajak am Fluss entlanggeschleppt und sind dann über den Tahkojärvi und zum See hochgepaddelt. Das ist ziemlich weit. Und ich weiß nicht, wie gut sie vom Schwedischen Institut für
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