Bis dein Zorn sich legt
die Zeit zum Abendmelken gekommen ist.
Aber sie gehen nur einige Schritte, und dann ist das Brüllen nicht mehr zu hören. Sie können diesem Geräusch nicht mehr folgen. Sie wissen beide nicht mehr so recht, aus welcher Richtung es gekommen ist.
Sie legen sich eine Weile zum Ausruhen auf eine Lichtung. Das Moos unter ihnen ist trocken, und die Sonne wärmt. Sie werden schläfrig. Hjalmar will nicht mehr weinen, er ist nur noch müde. Er döst ein. Tores Beine zucken, und er sagt etwas im Schlaf.
Hjalmar wird davon geweckt, dass Tore an seinem Arm zieht.
»Jetzt will ich nach Hause«, quengelt Tore. »Ich hab Hunger.«
Auch Hjalmar hat Hunger. Sein Magen krampft sich zusammen. Die Sonne steht jetzt tief. Der Wald ist von fremden Geräuschen erfüllt. Die Wärme weicht von den Bäumen, es knackt im Holz, und die Jungen fahren zusammen. Es hört sich fast wie Schritte an. Das scheußliche Geräusch eines bellenden Fuchses. Es wird kühler, und sie frieren ein wenig.
Sie gehen aufs Geratewohl los.
Nach einer Weile erreichen sie einen Bach. Sie knien sich ans Ufer und füllen ihre Becher. Löschen ihren Durst.
Hjalmar überlegt.
Wenn das nun derselbe Bach ist, der an Iso-Junttis Hof am Ortsrand vorbeifließt?
Einmal hat Hjalmar Stöckchen in diesen Bach fallen lassen. Die trieben in Richtung des Kalixälv davon. Wenn sie also bachaufwärts am Ufer entlanggehen, müssten sie zum Dorf kommen.
Das heißt, wenn es dieser Bach ist. Aber sie können ihm genauso gut folgen wie in eine andere Richtung gehen.
»Wir gehen hier lang«, sagt er zu Tore.
Aber Tore will sich nichts sagen lassen. Niemand soll ihm erzählen, in welche Richtung er zu gehen hat. Höchstens der Vater.
»Nein«, sagt er. »Wir gehen da lang.«
Er zeigt in die entgegengesetzte Richtung.
Jetzt kommt es zum Streit. Tores Widerstand gibt Hjalmar die felsenfeste Sicherheit, dass der Weg bachaufwärts der beste ist.
Tore weigert sich starrköpfig. Hjalmar nennt ihn einen blöden Bengel, findet ihn verdammt idiotisch, jetzt hat er gefälligst zu gehorchen.
»Du hast mir nichts zu sagen«, heult Tore.
Er flennt los und will, dass Mama kommt und sie holt. Und da haut Hjalmar ihm eine runter. Tore boxt ihm zur Antwort in den Bauch. Bald liegen sie auf dem Boden. Die Prügelei ist rasch entschieden. Tore hat keine Chance. Der Altersunterschied gibt den Ausschlag. Und Hjalmar ist groß und kräftig.
»Jetzt geh ich«, brüllt er Tore an.
Er sitzt auf dem Bruder. Lässt dessen Arme los, packt sie wieder, als Tore versucht, ihm ins Gesicht zu schlagen. Am Ende gibt Tore auf. Er hat den Kampf verloren. Aber nicht die Auseinandersetzung an sich. Als er sich aufgerappelt hat, geht er entschlossen in die andere Richtung.
Hjalmar ruft hinter ihm her: »Sei kein Idiot! Komm jetzt mit mir!«
Tore stellt sich taub. Nach einer Weile kann Hjalmar ihn nicht mehr sehen.
Um Viertel nach elf Uhr abends erreicht Hjalmar die Landstraße nach Vittangi. Er wandert darauf weiter und nach einer guten Stunde nimmt ein Lastwagen ihn mit. Es ist der Wagen seines Vaters, aber nicht der sitzt hinter dem Steuer, sondern Johannes Svarvare. Ein anderer Mann aus dem Ort, Hugo Fors, sitzt neben ihm. Die beiden halten fünfzig Meter vor ihm und beide Männer öffnen die Türen und rufen ihn. Ihre weichen Schirmmützen sitzen schräg über ihren sonnengebräunten Gesichtern. Sie haben die Hemdsärmel aufgekrempelt. Hjalmars geht das Herz auf, als er sie sieht. Freude und Erleichterung schäumen in ihm auf. Bald wird er zu Hause sein.
Sie lachen, als sie ihm in den Wagen helfen. Er darf zwischen ihnen sitzen. Sie sagen, Herrgott, Junge, deine Eltern haben sich ja solche Sorgen gemacht. Sie erzählen, dass nach dem Abendmelken sich fast das ganze Dorf auf die Suche gemacht hat. Hjalmar will antworten, aber seine Stimme versagt.
»Wo hast du denn Tore gelassen?«, fragen die Männer.
Er bringt kein Wort heraus. Die Männer wechseln Blicke.
»Was ist passiert?«, fragt Johannes. »Jetzt sag schon, Junge, wo hast du deinen Bruder gelassen?«
Hjalmar schaut zum Wald hinüber.
Die Männer wissen nicht, was sie davon halten sollen. Kann der jüngere Bruder in ein Moor geraten sein?
»Jetzt bringen wir dich nach Hause«, sagt Hugo Fors und legt Hjalmar die Hand auf den Kopf. »Über alles andere reden wir später.«
Seine Stimme ist ruhig wie ein abendlicher See, aber unter der Oberfläche treibt eine stahlblanke Unruhe.
Sie versammeln sich auf dem Hof der Krekulas. Es ist wie
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