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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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Endgültigem wie einer Hinrichtung war Sándor heute nicht hergekommen, aber doch zu einem Abschied auf Zeit. Bella fuhr nach Budapest, nach Prag, gastierte dort und in den Heilbädern Karlsbad und Marienbad mit den »Blue Beasts«, die Jenitzkys Jazzwettbewerb so furios gewonnen hatten; sie würden sich eine Weile nicht sehen, hatten sich sowieso kaum gesehen nach dem denkwürdigen Abend vor ein paar Monaten. Er hatte versprochen, Lebewohl zu winken. Draußen fiel leichter Schnee; das Stahldach mit den geriffelten Glasscheiben war schon weiß belegt, war undurchsichtig geworden; ein milchiger Deckel über dem brodelnden Dampfkochtopf der Lokomotiven, die hier die Schlaf- und Speise wagen der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, die unzäh ligen Waggons und Gepäckwagen über die in Dutzenden neben einanderliegenden Gleise schoben. Es war hundskalt in Berlin, trotzdem spürte man auf den Bahnsteigen den Feueratem der schweren Tenderlokomotiven, hörte Zischen und Fauchen, als würden die Reisenden nicht transportiert, sondern zu Asche verbrannt, um am Zielort wieder aufzuerstehen.
    Sándor sah auf eine der Uhren auf den stählernen Uhrtürmen; der ganze Bahnhof war ein Monument aus Stahl und Granit, ein Ehrfurcht heischender Tempel für die Götter der Veränderung, ausgedacht von ergebenen Jüngern des Fortschritts. Hatten Schwechten und Seidel den Menschen überhaupt mitgedacht in ihrem Entwurf; hatte der Bildhauer Brunow die beiden Figuren auf dem Portikus, »Tag« und »Nacht«, als Schutzpatrone der Reisenden errichtet – oder als gnadenlose Monstren, denen Kilometer, Herzen, Leben zu opfern waren?
    Er schüttelte sich; in Bahnhöfen kamen ihm immer bedrückende Gedanken wie diese, es war einfach kein Ort für einen Platzhirsch wie ihn, einen Wolf in seinem Revier. Obwohl das Revier nicht mehr das gleiche war wie damals, vor dem Anschlag auf die Femina. Berlin, ganz Deutschland hatte sich verändert in diesem Jahr 1930; die NSDAP hatte bei den Reichstagswahlen im September rabiate Gewinne verbucht. Der schwarzbraune Bodensatz war nach oben geschwappt, und 107 Abgeordnete waren im Triumph ins Parlament eingezogen, bekamen noch mehr Gehör, noch mehr Aufmerksamkeit für ihre Parolen, mit denen sie das geschundene Volk aus der Krise prügeln wollten. Oh ja, die Krise – die Zahl der Arbeitslosen taumelte auf die fünfte Million zu, und die Regierung versuchte verzweifelt, mit immer neuen Notverordnungen eine Lage unter Kontrolle zu halten, die doch schon längst außer Kontrolle war. Notverordnungen regelten die Mieten, die Einkommen, die Renten; Notverordnungen regelten die Preise. Selbst der Preis einer populären Jazz-Schallplatte von, sagen wir mal, »Jack Hylton & His Boys« war innerhalb einiger Wochen um zwanzig Prozent gesunken – das war auch eine Art, dem Volk den Jazz nahezubringen. Davon abgesehen wurden die Polemiken gegen diese Musik immer aggressiver. Und Julian Fuhs hatte man schon zum dritten Mal die Scheiben der kleinen Bar eingeworfen, die er von seiner Mutter Hertha übernommen hatte, weil die sich den immer offeneren Angriffen gegen Juden nicht mehr aussetzen wollte und sich aufs karge Altenteil zurückgezogen hatte. Die Musikszene war im Umbruch; wer weiterspielen würde und wer aufgeben müsste, war nicht mehr abzusehen.
    Sándor war noch immer zu früh; er war von der Keithstraße herübergelaufen und schneller gewesen als gedacht. Die müde Karosse der letzten Nacht hatte es mit Mühe in die Garage der Mordkommission geschafft und war dann liegen geblieben; die Monteure in der Asservatenkammer waren auch nicht mehr, was sie mal waren.
    Er kaufte ein kleines Glas säuerlichen, lauwarmen Punsch, an dem er nur einmal nippte, dann zog er sich in eins der schmalen, von innen beschlagenen Wartehäuschen zurück, die die Bahnsteige säumten, um nicht länger in der klirrenden Kälte zu stehen. Er setzte sich auf eine Bank aus grün lackierten Holzstreben und wartete. Auch hier hatten sie eine kleine Uhr angebracht; die Reichsbahn hielt unendlich viel auf ihre Pünktlichkeit und Präzision; Siemens und Halskes Uhrenanlage war ein technisches Meisterwerk, das sekundengenau die Zeit in die verstecktesten Winkel des Bahnhofs sandte.
    Sándor gähnte; außer ihm war nur ein anderer Mann im Wartehaus, der hinter einer aufgeschlagenen Zeitung nicht zu sehen war

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