Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
Vom Netzwerk:
– ausgerechnet dem
Völkischen Beobachter
, der seit 1929 auch in einer Berliner Ausgabe erschien. Sándor schaute genau hin; es war nicht die Berliner, sondern die Münchner Ausgabe des Blattes; der Mann schien aus München zu kommen oder dorthin zurückzufahren. Ein Mann mit wenig Reisegepäck, der keine große Reise vor sich hatte – oder alles zurückließ. Sándor lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Bahnhöfe waren kein Ort für ihn, er sah Gespenster. In dieser gänzlich fremden Umgebung hatte er das Gefühl, den Mann hinter der Zeitung genau zu kennen. Es gab sonst dieses Gefühl von Fremdheit, wenn man mit einem Unbekannten in einem Raum war; hier fehlte es völlig. Am liebsten wäre er nach vorne geschnellt und hätte dem Mann die aufgeschlagene nationalsozialistische Zeitung vom Gesicht weggerissen, um zu sehen, wer sich hinter dem mit Schmähreden und pseudovisionärem Gestammel vollgesudelten Blatt verbarg … wahrscheinlich ein Niemand, ein ihm gänzlich Unbekannter, der ihn verständnislos angegafft hätte, verwundert oder erbost über die Störung.
    Sándor horchte nach dem Ticken der Uhr; doch elektrische Uhren tickten nicht, nur der Sekundenzeiger, der im Takt vorwärtsgeschoben wurde, machte ein kaum hörbares, schabendes Geräusch. Also schloss er die Augen. Er schloss die Augen, aber er schlief nicht, er dachte nach.
    Saß ihm Belfort gegenüber?
    Der Gedanke erschreckte ihn so, dass er die Augen aufriss und sein Gegenüber erneut scharf fixierte. War das der Mann, den er vor einem Vierteljahr vor Gericht das letzte Mal gesehen hatte? Belfort hatte gar nicht Belfort geheißen; Belfort hatte Verbindungen nach ganz oben gehabt, ins Thüringische Ministerium, Belfort hatte Unterstützung bekommen aus hochrangigen Münchner Polizeikreisen, die sich für ihn verwendet hatten. Ein unerhörter Vorgang, eine unbotmäßige Inschutznahme eines Massenmörders. Es hatte Aufhebungen von Beweisanträgen wegen Verfahrensfehlern gegeben, juristische Winkelzüge; Polizeibeamte waren nicht von ihrem Aussageverbot entbunden worden oder trotz Vorladung nicht erschienen, es hatte Disziplinarverfahren ge geben gegen alles und jeden.
    Nach langwierigen Untersuchungen und Vernehmungen hatte die Justiz die Sache an sich gezogen; Belfort war verlegt worden, man wusste nicht, wohin.
    Fuhr Belfort nach München zurück, wo er hergekommen war, hergekommen mit seiner ganzen braunen Pest, geschlüpft wie die Erdkröten aus dem schwarzen Untergrund eines morastigen Bierkellers?
    Â»Hey, Sándor, Schlafmütze; ich hatte auf eine Klarinettenfanfare gehofft, aber du – schläfst!«
    Sándor fuhr zusammen; er war wahrhaftig eingeschlafen in seinen düsteren Betrachtungen über sein unheimliches Gegenüber. Belfort hätte leichtes Spiel gehabt mit ihm, wenn es wirklich Belfort gewesen wäre – ein schneller Schnitt mit einem schmalen Stilett, niemand, der etwas gesehen hätte durch die beschlagenen Scheiben. Ein Toter auf einem Bahnsteig, einer mehr, einer weniger; irgendein Bulle in Berlin im Winter.
    Doch jetzt stand Bella vor ihm und rüttelte ihn wach, lachend, und ihr Atem kam als weiße Wolken aus ihrem halb geöffneten Mund. Bella mit einem unförmigen, klobigen Filzmantel und offe nen Haaren unter einer riesigen Kapuze; Bella mit einem Handköfferchen und einem Schrankkoffer, der so riesig war, dass es aussah, als hätte sie ihren Vater mit auf die Reise genommen und mangels Fahrkarte in diesem Koffer versteckt. Sándor riss sich nur mit Mühe aus seinen finsteren Ahnungen und Träumen, dabei war es höchste Zeit; Bellas Zug stand bereits auf dem Bahnsteig vor ihnen, und alles, was er sich für diesen Augenblick zurechtgelegt hatte, blieb ungesagt. Vielleicht hatte auch Bella noch etwas sagen wollen, auch sie kam nicht dazu, aber während der Schaffner schon den Zug entlanglief und die Waggontüren von außen schloss, zog sie noch schnell einen der dicken wollenen Fäustlinge aus und suchte mit ihrer warmen kleinen Hand seine kalte große und legte einen Groschen hinein, einen Groschen, der warm war und ein bisschen feucht und den er gut kannte: Das war der, den er bei ihrem ersten Zusammentreffen unten in Fuhs’ Keller auf das Bierfass gelegt hatte als Witz. Sie hatte die Münze behalten.
    Â»Hier, Big Boy«, sagte sie zu ihm, und

Weitere Kostenlose Bücher