Black Bottom
wurden zwei Frauenbeine sichtbar, ein enges silbrig weiÃes Etuikleid, dessen Trägerin langsam herunterkam zu der staunenden Combo. Nein, das war nicht Lily Löwenthal, denn Lily konnte nicht singen, und die Frauenstimme, die jetzt von der Treppe aus zu hören war, klang samtig, dunkel und von einer fast schläfrigen Nachlässigkeit.
»I work at the Palace Ballroom ⦠Iâm much too tired to sleep« â es waren die ersten Zeilen des von Julian Fuhs angespielten Richard-Rodgers-Songs
Ten Cents a Dance
.
Sándor Lehmann hatte die Klarinette sinken lassen und sich mit seinem breiten Rücken an eins der hölzernen Bierfässer gelehnt, um den Auftritt der jungen Dame in Ruhe beobachten zu können. Nach einer Ten-Cents-, einer Groschentänzerin also sah die Kleine wahrhaftig nicht aus, auch wenn sie das laszive Animierliedchen mit einer mustergültigen Koketterie zu Gehör brachte. Nein, diese hier hatte Klasse; jedenfalls weit mehr als die Sängerinnen, die Fuhs sonst üblicherweise in den Keller schleppte. »Soll ich dir mal meine Bierfässer-Sammlung zeigen?«, so juxten die Männer sonst über Julians unbeholfene Versuche, der Jazz-kapelle für den einen oder anderen Song eine Sängerin zu verschaffen. Und zugegeben, die stimmlichen Qualitäten waren nicht das wichtigste von Fuhsâ Auswahlkriterien â auch Lily war als Sängerin eine Katastrophe gewesen und schien vom Bandleader nun trotzdem fürs ganze Leben angeheuert zu werden ⦠für alles auÃer fürs Singen. Doch die Frau auf der Stiege hatte beides, eine Stimme für den Jazz und eine Ausstrahlung, die den stickigen Keller für Sándor augenblicklich zur Gebärmutter einer Weltklassekapelle machte.
»All that you need is a ticket«, lockte die fremde Sängerin und sah ihn, den GröÃten hier unten, herausfordernd an, »come on, big boy, ten cents a dance.«
Der Bassist, der Schlagzeuger Charlie Hersdorf und auch Julian Fuhs selbst, der die letzten Takte noch mit ein paar synkopischen Klavierakkorden ausgetupft hatte, lieÃen den Song ausklingen, ohne den gaffenden Bläsern einen Einsatz zu geben. In das atemlose Schweigen hinein kramte Sándor in der Hosentasche nach einem Groschen und legte ihn stumm neben die Sängerin auf ein Fass. Die Frau schien aus dem Lied aufzutauchen wie aus einem Mittagsschlummer, drehte den Blick, ohne auf den Groschen zu sehen, zu Sándor, schaute ihm belustigt in die Augen und sagte mit einer frechen Mädchenstimme, die mit dem gesungenen Timbre keine Ãhnlichkeit hatte: »Ein einziger Groschen? So billig kommen Sie normalerweise davon? Julian, was für einen Hungerlohn zahlst du deinem Klarinettisten? Sieh mal, wie sein Smoking sitzt ⦠er sieht aus wie ein Schupo!«
Julian Fuhs ging auf den hellsichtigen Affront nicht ein; er lächelte selig in die Runde, machte eine knappe Geste mit der rechten Hand und stellte vor: »Jungs, unsere neue Sängerin â Bella, die Jungs. Sei nett zu ihnen, sie hatten eine schwere Kindheit.«
FEMINA
Die Luft vor der Bar war gefüllt mit allen Gerüchen des GroÃstadtfrühlings. Die Platanen waren über Nacht grün geworden, die Autos rochen nach Benzin und Schmieröl â ein wunderbarer Duft. Die Frauen auf dem Gehweg trugen die Parfüms der Saison, und Sándor Lehmann wurde schwindelig von all dem »Soir de Paris«, das Chanels Wunderparfümeur Ernest Beaux vorletztes Jahr für Bourjois kreiert hatte und das dem Berlin von 1930 seinen eigenen, unpariserischen Verführungsduft zu geben schien. Abend in Berlin; schwere Regentropfen punkteten das Trottoir unter den Gaslaternen schwarz, und die ganze Nürnberger StraÃe wurde überstrahlt von dem gleiÃend hellen Entree der Femina, wo jetzt im Zehnsekundentakt die Limousinen stoppten und elegante Paare aus den chromleistenverzierten Fahrzeugtüren stiegen.
Die Femina â das war der magische Anziehungspunkt für Hunderte von Nachtschwärmern, für jeden vergnügungssuchenden Berliner und die Gäste der Stadt. Bielenberg und Moser hatten mit der Architektur des Tanzpalastes ihr Europahaus noch weit übertroffen, und der gestrenge Raumkünstler Michael Rachlis, der unter dieser Kathedrale nächtlichen Vergnügens ein karges, arrogant sachliches Grand Café inszeniert und möbliert hatte, hatte sich einen Teufel um die populäre Gier nach
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