Blauer Montag
mal seine eigene Tochter.«
»Vielleicht doch. Vielleicht sagt sie deswegen nichts.«
»Wie auch immer. Selbst wenn sie etwas beobachtet hat, wird sie sich jetzt nicht mehr daran erinnern. Nach so langer Zeit bleiben nur noch Erinnerungen an Erinnerungen an irgendwelche Suggestionen. Alles ist längst von anderem überdeckt.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass die Kleine verloren ist.«
»Tot?«
»Tot.«
»Das heißt, du gibst auf?«
»Nein.« Er schwieg einen Moment, ehe er hinzufügte: »Aber ich ziehe ein paar Männer von dem Fall ab.«
»Sage ich doch: Du gibst auf.«
Ein Jahr später wurde von einem neuen Computerprogramm, bei dem sogar sein Erfinder warnte, es sei spekulativ und unzuverlässig, ein Foto erstellt, das zeigte, auf welche Weise Joanna sich verändert haben könnte. Ihr Gesicht wirkte ein wenig voller, ihr dunkles Haar noch eine Spur dunkler. Ihr Zahn war nach wie vor abgebrochen, ihr Lächeln immer noch ängstlich. Ein paar Zeitungen brachten das Bild, wenn auch nicht auf der Titelseite. In der Zwischenzeit war eine besonders fotogene Dreizehnjährige ermordet worden, deren Gesicht seit Wochen die Schlagzeilen dominierte. Joanna war inzwischen Schnee von gestern – eine alte Geschichte, an die sich die Öffentlichkeit nur noch dunkel erinnerte. Rosie starrte das Foto an, bis es ihr vor den Augen verschwamm. Sie hatte Angst, ihre Schwester nicht mehr zu erkennen, wenn sie ihr über den Weg lief. Gleichzeitig befürchtete sie, Joanna würde sie ihrerseits auch nicht mehr erkennen – oder sie zwar erkennen, sich aber trotzdem von ihr abwenden. Manchmal setzte sie sich in Joannas Zimmer, das seit dem Tag ihres Verschwindens nicht verändert worden war. Noch immer thronte ihr Teddy auf dem Kissen, ihr Spielzeug war in den flachen Behältern unter dem Bett verstaut, und ihre Anziehsachen – die ihr inzwischen bestimmt nicht mehr passten – lagen ordentlich gestapelt in Schubladen oder hingen im Schrank. Rosie war inzwischen zehn. Nächstes Jahr wollte sie auf die höhere Schule wechseln. Sie hatte darum gebeten, in die knapp drei Kilometer und zwei Busstationen entfernte Schule im benachbarten Stadtteil gehen zu dürfen. Dort würde sie nicht mehr das Mädchen sein, das ihre kleine Schwester verloren hatte, sondern einfach Rosie Vine, Jahrgangsstufe sieben: eine schüchterne, für ihr Alter eher kleine
Schülerin, die in allen Fächern recht gut war, wenn auch in keinem Klassenbeste, außer vielleicht in Biologie. Inzwischen war sie alt genug, um zu wissen, dass ihr Vater mehr trank, als er sollte. Gelegentlich musste ihre Mutter kommen und sie abholen, weil er sich nicht mehr richtig um sie kümmern konnte. Sie war auch alt genug, um sich wie eine ältere Schwester ohne jüngere Schwester zu fühlen, und manchmal spürte sie Joannas Anwesenheit wie die eines Geistes – eines Geistes, der einen abgebrochenen Zahn hatte und ihr mit weinerlicher Stimme nachrief, sie solle doch warten. Manchmal entdeckte sie ihre Schwester auf der Straße, und jedes Mal setzte ihr Herz einen Schlag aus, bevor sich das betreffende Gesicht in das einer Fremden verwandelte.
Drei Jahre nachdem Joanna verschwunden war, zogen sie in ein kleineres, knapp zwei Kilometer entferntes Haus, das näher bei Rosies Schule lag. Es hatte zwar drei Schlafzimmer, aber das dritte war winzig, eher eine Abstellkammer als ein richtiger Raum. Deborah Vine wartete, bis Rosie morgens in die Schule aufgebrochen war, ehe sie Joannas Sachen wegpackte. Dabei ging sie ganz systematisch vor, indem sie erst die weichen Stapel ihrer Jacken und Shirts in Schachteln verstaute und dann die Kleider und Röcke zusammenlegte, in Müllsäcke steckte und zu festen Paketen verschnürte. Dabei gab sie sich große Mühe, nicht zu den rosafarbenen Plastikpuppen mit den langen Nylonhaarmähnen und starr geradeaus blickenden Augen zu schauen.
Auf dem jüngsten, vom Computer erzeugten Bild wirkte Joanna recht gelassen, als hätte sie ihre kindliche Ängstlichkeit inzwischen abgelegt. Ihr abgebrochener Zahn war einem neuen, unversehrten gewichen.
Rosie bekam ihre Periode und begann sich die Beine zu rasieren. Sie verliebte sich zum ersten Mal: in einen Jungen, der ihre Existenz kaum zur Kenntnis nahm. Jeden Abend schrieb sie unter
der Bettdecke in ihr Tagebuch und verschloss es mit einem silbernen Schlüssel. Als ihre Mutter irgendwann anfing, sich mit einem fremden Mann zu treffen, der einen braunen
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