Blauer Montag
1987
I n dieser Stadt gab es viele Geister. Sie musste aufpassen. Deshalb übersprang sie die Ritzen im Pflaster und hüpfte jedes Mal gerade so weit, dass ihre Füße, die in abgewetzten Schnürschuhen steckten, auf den Flächen zwischen den Spalten landeten. Mittlerweile war sie dabei sehr flink, sie beherrschte dieses Himmel-und-Hölle-Spiel fast schon im Schlaf. Sie hatte es jeden Tag auf dem Schulweg geübt, und auch davor, so lange sie denken konnte: zunächst an der Hand ihrer Mutter, die ungeduldig an ihr zerrte, während sie von einem sicheren Platz zum nächsten sprang, und später allein. Nur nicht auf die Ritzen treten, oder… oder was? Vermutlich war sie mit ihren neun Jahren inzwischen viel zu alt für dieses Spiel. In ein paar Wochen – kurz bevor die Sommerferien anfingen – wurde sie sogar schon zehn. Trotzdem spielte sie es weiter, größtenteils aus Gewohnheit, aber auch aus Angst vor dem, was passieren könnte, wenn sie damit aufhörte.
Das nächste Stück hatte es in sich, denn hier war das Pflaster in ein von Zacken durchzogenes Mosaik aufgebrochen. Sie überwand den schwierigen Abschnitt, indem sie auf Zehenspitzen von einer kleinen Insel zur nächsten hüpfte. Dabei schlugen ihr die Zöpfe gegen die heißen Wangen, und die Schultasche mit den schweren Büchern und ihrer nur halb geleerten Lunchbox an die Hüfte. Hinter sich hörte sie Joannas Schritte, wandte sich jedoch nicht um. Ihre kleine Schwester trödelte wie immer hinter ihr her und hielt sie auf. Gerade hörte sie sie wieder jammern: »Rosie, Rosie! Warte auf mich!«
»Beeil dich ein bisschen!«, rief sie über die Schulter zurück. Obwohl sich mittlerweile mehrere Leute zwischen ihnen befanden,
erhaschte sie einen Blick auf Joannas erhitztes Gesicht, das unter dem dunklen Pony rot leuchtete. Ihre kleine Schwester machte einen ängstlichen Eindruck und hielt vor lauter Konzentration die Zungenspitze an die Unterlippe gepresst. Ihr Fuß landete auf einer Ritze. Sie schwankte einen Moment lang und trat dann auf eine weitere Spalte. Das passierte ihr ständig. Sie war ein ungeschicktes Kind, das oft Essen verschüttete und sich regelmäßig die Zehen anschlug oder in Hundekacke trat. »Beeil dich!«, wiederholte Rosie ärgerlich, während sie weiter an den anderen Fußgängern vorbeihüpfte.
Es war vier Uhr nachmittags, und der Himmel strahlte in einem wolkenlosen Blau. Das grelle Sonnenlicht auf dem Pflaster tat ihr in den Augen weh. Rasch bog sie in Richtung Süßwarenladen ab und befand sich plötzlich im Schatten, wo sie sofort ihr Tempo drosselte, da die Gefahr nun gebannt war. Die Pflastersteine wurden hier von Asphalt abgelöst. Sie ging an dem Mann mit dem pockennarbigen Gesicht vorbei, der tagtäglich in der Tür saß und eine Büchse neben sich stehen hatte. An seinen Schnürstiefeln fehlten die Schuhbänder. Rosie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie mochte es nicht, wie er lächelte, ohne wirklich zu lächeln, genau wie ihr Vater es manchmal tat, wenn er sich am Samstag von ihnen verabschiedete. Heute war Montag: Am Montag vermisste sie ihn am meisten, weil sie dann noch die ganze Woche vor sich hatte und genau wusste, dass er wieder nicht da sein würde. Wo blieb Joanna bloß? Während Rosie wartete, eilten andere Leute an ihr vorüber – ein Pulk Jugendlicher, eine Frau mit einem Schal um den Kopf und einer großen Tasche, ein Mann mit einem Stock –, und dann trat endlich ihre kleine Schwester aus dem gleißenden Licht in den Schatten, eine magere Gestalt mit überdimensionaler Schultasche, Knubbelknien und schmuddeligen weißen Söckchen. Das Haar klebte ihr an der Stirn.
Rosie wandte sich wieder um, steuerte auf den Süßwarenladen zu und begann zu überlegen, was sie sich kaufen sollte.
Vielleicht Fruchtgummis … oder Eiskonfekt, allerdings schmolz das bei der Hitze bestimmt, bis sie zu Hause war. Joanna würde sich wie üblich für Erdbeerstangen entscheiden und davon einen rosa verschmierten Mund bekommen. Hayley, eine Klassenkameradin von Rosie, befand sich bereits im Laden. Sie gesellte sich zu ihr an die Theke, und gemeinsam suchten sie ihre Süßigkeiten aus. Weingummis, beschloss Rosie. Mit dem Zahlen musste sie warten, bis Joanna kam. Sie warf einen Blick zur Tür und hatte einen Moment lang das Gefühl, etwas zu sehen – irgendetwas Verschwommenes, das anders war als sonst, wie ein Schimmer in der heißen Luft, als wollte ihr das Licht einen Streich spielen. Dann aber war es verschwunden.
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