Blaulicht
Gedanken weckt, der ihr blitzschnell und schneidend ins Bewusstsein schießt.
»Es geht um Sandra. Oder?«, sagt sie deshalb, ohne dass ihr Gegenüber auch nur einen Ton von sich gegeben hätte, und sie sagt es in einem beherrscht unterkühlten Ton, als stünde Kalz ihr mit einem Reisepassantrag im Einwohnermeldeamt gegenüber.
»Kommen Sie herein.«
Sie führt ihn ins Esszimmer, bietet ihm einen Platz an, verschwindet kurz in der Küche und kehrt mit zwei Gläsern Mineralwasser zurück. Teures Glas, Bleikristall, auf dem Wasserspiegel balanciert je eine hauchdünne Zitronenscheibe zwischen klirrenden Eiswürfeln.
»Ist ihr etwas zugestoßen?«
Auch das kommt beinahe gleichgültig, als frage sie Kalz, ob er auf seinen Pass lieber vier bis sechs Wochen warten möchte oder ob er ihn – selbstverständlich gegen Gebühr – schon früher abholen wolle.
»Das kann man so sehen,« Kalz greift nach dem Glas vor sich und trinkt einen großen Schluck, »sie hat heute auf offener Straße einen Mann attackiert. Mit einem Messer. Dieser Mann war ihr ehemaliger Musiklehrer Wolfgang Gerlach.« Kalz schildert der Kovács in kurzen, präzisen Sätzen, was genau sich vor wenigen Stunden abgespielt hat, erwähnt auch, dass sich Täterin und Opfer momentan im Nordklinikum befinden, Gerlach wegen der Stichverletzungen, Sandra wegen eines schweren Kreislaufversagens, eventuell in Zusammenhang mit der Einnahme von Drogen. Während er spricht, beobachtet er Sandras Mutter sehr genau. In ihrem Gesicht zeigt sich nicht die Spur einer Regung.
»Frau Kovács, haben Sie mich verstanden? Ihre Tochter hat heute ihren Lehrer mit mehreren Messerstichen schwer verletzt!«
»Aha.«
Nichts weiter. Die Eiswürfel knacken leise in den Gläsern.
»Wahrscheinlich hat sie mal wieder Geld gebraucht«, konstatiert sie nach einer Weile lapidar und mustert Kalz dabei mit dem gelangweilten Blick einer Lehrerin, die einem unterbelichteten Zögling zum x-ten Mal eine Textaufgabe erklärt. Dann kommt sie plötzlich doch noch in Fahrt. Droht dem Kalz, dass er ernsthafte Schwierigkeiten bekäme, falls in den nächsten Tagen die Zeitungen so was meldeten wie »Unternehmertochter begeht Raubüberfall« mit Fotos und allem Drum und Dran.
Die Kaltschnäuzigkeit der Frau irritiert sogar den unterkühlten Kalz, und für einen Moment kommen ihm seine eigenen Töchter in den Sinn. Sicherlich, welche Eltern kennen nicht das Gefühl, den Nachwuchs gelegentlich an die Wand klatschen zu können, aber diese gnadenlose Härte, die Eiseskälte dieser Mutter ihrer eigenen Tochter gegenüber ist geradezu ekelhaft, und er spürt Übelkeit in sich aufsteigen.
»Frau Kovács, es geht hier nicht um Sie, sondern um Ihre Tochter, ist Ihnen das eigentlich klar?« Warum fühlt er sich in der Nähe dieser Frau an die Dealerszene erinnert und an den Fall, an dem er schon seit Wochen arbeitet, an die vier Drogentoten, an die beiden Tschechen, die höchstwahrscheinlich darin verstrickt sind und die Schleuserbanden, die es immer im Hintergrund gibt, auch wenn sie bisher noch an niemanden aus dieser Liga herangekommen sind? In diesen Kreisen herrscht ein Gesetz über allen anderen: bedingungslose Loyalität. Wer sich nicht an dieses Gesetz hält, wird gnadenlos eliminiert. Man muss einen sehr kühlen Kopf bewahren, wenn man sich auf die Spielregeln dieser Szene einlässt, man muss seine Gefühle unter allen Umständen unter Kontrolle behalten.
»Es war mutmaßlich kein Raubüberfall, und was die Zeitungen schreiben, ist nicht meine Sache«, sagt er deshalb ebenso ruhig wie bestimmt und schaut der blonden Frau mit dem harten Mund fest in die Augen, für einen winzigen Augenblick zucken ihre sorgsam manikürten Nägel über den Stoff ihrer Hose – der Nagel am rechten kleinen Finger ist abgebrochen.
Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, ein blondes Mädchen huscht in den Flur, von dort direkt in die Küche und macht sich am Kühlschrank zu schaffen.
»Leonie«, sagt Frau Kovács. »Unsere jüngere Tochter.« Und zu Leonie, die sich mit einem großen Glas Orangensaft nähert: »Kommissar Kalz.«
»Hauptkommissar.«
»Hauptkommissar Kalz. Er ist wegen Sandra hier.«
Das Mädchen zuckt zusammen, spannt die Schultern.
»Ist ihr was passiert?«
»Nein. Ich erzähl’s dir später. Geh auf dein Zimmer.«
*
Geh auf dein Zimmer! Geh auf dein Zimmer!
Wie oft hat sie dieses Geh auf dein Zimmer! schon gehört? Es ist der Befehl zum Abtreten, bevor geschieht, was so oft
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