Blut der Sternengötter
1.
Bisher war es eine merkwürdig kalte Jahreszeit gewesen. Kein Schnee, nicht einmal oben auf den Berggipfeln, sondern warme Winde, die über die stoppeligen Felder wehten. Anstelle der Kälte hatte eine allgemeine Trockenheit eingesetzt, die tödlich war für Wald und Weideland. Und das Wetter war nur ein Teil der seltsamen Geschehnisse auf Gorth – zumindest in den von Menschen bewohnten Gegenden – seit die Sternenlords sich zurückgezogen hatten.
Die Sternenlords hatten die Gorthianer mit ihrer Macht über die Tiere des Waldes erhoben und ihnen ihren Schutz gegeben, so wie jetzt der Lord eines jeden Lehengutes einem Gesetzlosen, der vor einem Schwertkampf davonlief, Sicherheit des Lebens und Schutz gewähren konnte. Aber jetzt, da die Sternenlords fortgegangen waren – was würde nun aus Gorth werden?
Kincar s’Rud blieb unter dem flatternden Murdshaut-Banner von Styr stehen und blickte prüfend über die Hügelkämme. Sein Mantel, geschickt zusammengenäht aus Streifen weichen Suard-Fells, von Tieren, die er selbst auf seinen einsamen Jagdzügen im Oberland erlegt hatte, schmiegte sich eng an ihn, wie er dort oben windumweht auf dem Wachtturm stand und Ausschau hielt nach irgendeiner Bewegung auf den blauerdigen Feldern des Gutes. Kincar war kein Riese, der sich mit der Größe eines Sternenlords messen konnte, aber er war muskulös für sein Alter und übertraf bereits seine Lehrmeister im Schwertspiel. Er stützte sich mit einer seiner schmalen, sechsfingrigen Hände auf die rauhe Steinbrüstung.
Er hatte sich am Mittag freiwillig für diesen Posten gemeldet, um Jords hinterhältigem Gestichel zu entgehen – Jord, der daran glaubte, daß der Abzug der Sternenlords für die Männer von Gorth einen neuen und helleren Tag bedeutete. Und was würde es wirklich bedeuten? Kincars schräge, blaugrüne Augen verengten sich, als er diesen Gedanken weiter verfolgte.
Er, Kincar s’Rud, war der Sohn der Burgtochter und damit von Blutes wegen der Herrscher, sobald Murd s’Jastard in die Gemeinschaft der Drei eingehen würde. Aber wenn er nicht mehr lebte, um dieses Lehen zu beherrschen, dann würde Jord hier der Herr sein. In all den Jahren, seit er von der Stadt zu diesem fernen Berggut gebracht worden war, hatte er genug gehört und sich selbst aus Bruchstücken zusammengereimt, um zu wissen, was ihn erwartete, wenn Murd aus dem Leben in das Reich der Schatten ging.
Jord hatte seine Anhänger – Männer, die er während seiner Handelszeit um sich geschart hatte; Männer, die ihm in persönlicher Treue verbunden waren, nicht durch Tradition des Clans. Und Jord schien Vorteile für sich selbst geradezu riechen zu können. Weshalb sonst wäre er vor zwei Tagen den langen Weg hierhergekommen, an der Spitze einer buntgemischten Karawane? Angeblich kam er, um die neuesten Nachrichten von der Abreise der Sternenlords zu bringen, aber es war doch seltsam, daß Murd gerade bettlägerig geworden war, und in Anbetracht der alten Wunde, die seine Kräfte seit Jahren verzehrte, konnte man kaum hoffen, daß der alte Mann je wieder aufstehen würde.
Ob Jord versuchen würde, Kincar einen Schwerterkampf um das Gut aufzuzwingen? Seine ständigen versteckten Bemerkungen schienen es anzudeuten. Dennoch, als nächster Erbe nach Kincar einen solchen Streit zu provozieren, bedeutete unweigerlich, das Schicksal eines Geächteten herauszufordern, wie Jord sehr wohl wußte. Und Jord war zu klug, um der bloßen Genugtuung wegen, Kincar aus dem Weg zu räumen, seine Zukunft fortzuwerfen. Da war noch etwas, irgendein anderer Grund hinter Jords Interesse an dem Abzug der Lords und seinen Bemerkungen über das zu erwartende Leben – etwas, das Kincar beunruhigte. Jord unternahm nie etwas, bevor er nicht sicher war, genügend Rückendeckung zu haben. Und jetzt versuchte er kaum, seinen Triumph zu verbergen.
Kincar konnte sich nicht mehr an seine Mutter erinnern, es sei denn, er wollte einem sehr verschwommenen Traum von gedämpften Farben, Blumenduft und leisem Weinen in dunkler Nacht den Namen Anora, Burgtochter von Styr, geben. Aber nie hatte er sich mit der Tatsache abfinden können, daß Anora und Jord Bruder und Schwester gewesen waren. Und Jord hatte ihm oft genug zu verstehen gegeben, daß, was auch immer zwischen ihnen gewesen sein mochte, Haß die Grundlage für alles war.
Obwohl Kincar in Terranna, der Stadt der Sternenlords, geboren wurde, hatte man ihn doch auf das Lehnsgut gebracht, als er noch so jung war, daß
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