BookLess.Wörter durchfluten die Zeit (BookLessSaga Teil 1)
Dort wo man Bücher verbrennt,
verbrennt man am Ende auch Menschen.
Heinrich Heine
Prolog
Lucy trat durch die Eingangstür des Archivs, deren alte Scharniere zur Begrüßung knarrten. Sie presste die Bücher in ihrem Arm fest an sich. Hier war sie in Sicherheit. Hierher konnte ihr niemand folgen. So schnell es die steilen Stufen zuließen, eilte sie die Treppe hinunter.
In dem schmalen Gang zwischen den Regalen stieg ihr der vertraute Geruch alter Bücher in die Nase. Heute vermochte er sie nicht zu trösten.
Tränen rannen über ihre Wangen und sie betete, dass sie ihr Medaillon hier finden würde. Sie hoffte inständig, dass es auf ihrem Schreibtisch lag und darauf wartete, dass sie es abholte.
Durch die verzweigten Gänge lief sie auf ihr Büro zu. Umständlich kramte sie den Schlüssel aus der Jackentasche, bemüht, die Bücher, die sie auf dem Arm balancierte, nicht fallen zu lassen. Nachdem sie ihn gefunden hatte, schloss sie auf und trat ein.
Sie durchquerte den Raum, legte ihre Last auf dem Schreibtisch ab und knipste die kleine Arbeitslampe an. Dann begann sie hektisch zwischen den Papieren, Büchern und Karteikarten zu wühlen, die auf dem winzigen Tisch verstreut lagen. Sie konnte es nicht finden. Sie bückte sich, um unter dem Tisch nachzusehen. Ihre Bewegungen wurden immer fahriger. Colin würde ungeduldig werden, wenn sie nicht bald zurückkam. Verzweifelt sah sie sich um. Sie konnte es unmöglich verloren haben. Dafür war es zu wertvoll.
Endlich entdeckte Lucy es. Matt schimmernd lag das Medaillon auf einem Bücherstapel neben der Tür. Aufschluchzend stürzte sie sich darauf und umklammerte es. Vorsichtig legte sie es sich um den Hals und löschte das Licht. Ein letztes Mal sah sie sich um. Ob sie jemals zurückkehren würde?
Sie trat auf den Gang hinaus und blieb abrupt stehen. Etwas hatte sich verändert. Lucy wusste nicht sofort, was es war. Aufmerksam blickte sie sich um. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Bücher schwiegen und doch spürte Lucy ihre Angst, die sich nun auch ihrer bemächtigte. Ihr Herz begann laut zu schlagen. Furcht schnürte ihr die Kehle zu.
Dann roch sie es. Der vertraute Geruch alter Bücher war verschwunden. Etwas anderes hatte seinen Platz eingenommen. Im selben Moment, in dem sie begriff, was sie roch, bemerkte sie den weißen Qualm, der wie Nebel zwischen den Regalen hervor stieg. Dann drang ein unwirkliches Knistern an ihre Ohren.
Wie hypnotisiert starrte Lucy auf das Schauspiel, das sich ihr bot. Das musste ein Traum sein.
Wie aus dem Nichts züngelten kleine gelbe Flammen aus den Gängen zu ihrer Linken hervor. Mit jedem Wimpernschlag schienen sie größer zu werden. Ihre Farben wechselten zu einer verwirrenden Mischung von Weiß, Blau und Rot.
Es bestand kein Zweifel – das Archiv brannte.
Die Bücher – das Feuer würde sie vernichten. Jedes Einzelne von ihnen. Lucy war wie erstarrt. Dann nahm sie die Schreie der Bücher wahr. Ihre Verzweiflung grub sich in Lucys Herz.
Sie schwankte und griff Halt suchend nach der Wand. Was sollte sie tun? Viel zu schnell fraß das Feuer sich durch das trockene Holz und das uralte Papier. Die Flammen leckten über den Boden, wanden sich um jeden einzelnen Karton, bohrten sich in sein Innerstes und verrichteten ihr zerstörerisches Werk. Beinahe sorgfältig gingen sie dabei vor, als wollten sie verhindern, dass ihnen auch nur ein Buch entging. Keines würde verschont bleiben. Der Schatz, der hier so viele Jahre verwahrt und geschützt worden war, ging vor Lucys Augen verloren.
»Lauf, Lucy. Rette dich!«, forderten die Bücher plötzlich von ihr. »Rette uns!«
Die Betäubung fiel von ihr ab und sie erwachte aus ihrer Starre. Voller Panik wandte sich um und hastete zurück in ihr Büro. Sie knipste das Licht wieder an und griff nach dem Telefon. Dabei zitterten ihre Hände so stark, dass ihr der Hörer entglitt und auf den Boden knallte.
Für die Bücher hier unten würde vermutlich jede Hilfe zu spät kommen, aber der Bestand in den oberen Etagen konnte vielleicht gerettet werden. Sie musste sich nur beeilen. Alles hing jetzt von ihr ab.
Sie bückte sich, um den Hörer aufzuheben und versuchte, das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken. Dann wählte sie die Nummer des Infoschalters. Das Telefon war tot. Wütend schüttelte sie den altersschwachen Apparat und versuchte es noch einmal. Das Gerät gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Lucy stöhnte auf. Sie blickte zu den
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