Boy 7
Hosentasche gefallen war, und sofort hatte ich wieder das Echo meiner Stimme in den Ohren: Ruf auf keinen Fall die Polizei. Angenommen, ich wäre aus einer Jugendstrafanstalt abgehauen?
Ein Schauder lief mir über das Rückgrat.
Duschen. Mit klarem Kopf konnte man besser nachdenken.
Ich stand vor dem Waschbecken und starrte auf meine Füße auf der dottergelben Matte. Ich wollte zwar in den Spiegel schauen, traute mich aber nicht. Er flößte mir Angst ein, als könnte der Mann mit dem Beil plötzlich hinter mir auftauchen wie in manchen Horrorfilmen. Oder vielleicht hatte ich Angst, ich selbst könnte der Junge mit dem Beil sein!
Andererseits konnte der Spiegel vielleicht Antworten geben. Das Äußere sagte auch etwas über den Charakter. Es gab sogar eine gewisse Chance, dass sich beim Anblick meines Gesichts ein Türchen öffnete. Obwohl. Von dem kurzen Blick vorhin war ich nur erschrocken. Mich an etwas erinnern? Nicht die Spur.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da so auf der Matte gestanden habe, aber irgendwann hatte ich endlich genügend Mut gesammelt, um den Kopf zu heben. Er kam mir so schwer vor wie eine Kanonenkugel. Und dann dauerte es noch Minuten, bevor ich es wagte, die Augen aufzumachen.
Es war weniger beklemmend, als ich erwartet hatte. Ich meine: Ich war kein Monster oder so. Und auch wenn ich mich nicht wirklich erkannte, hatte mein Spiegelbild durchaus etwas Vertrautes. Wie ein Freund, den man erst nach vielen Jahren wiedersieht. Ein Freund, der sich so sehr verändert hat, dass man auf der Straße an ihm vorbeigehen würde – aber wenn man dann eine Weile mit ihm gesprochen hat, glaubt man doch, einige bekannte Züge auszumachen.
Ich hatte ein schmales Gesicht mit einer hohen Stirn und tief liegende blaue Augen. Meine Unterlippe war breiter als meine Oberlippe, und wenn ich lächelte, strahlte mich eine kerzengerade Reihe weißer Zähne an. Meine Nase war weder groß noch klein, aber auf ihr thronten ein paar kleine rote Pickel. Übrigens auch auf Stirn und Kinn. Meine fransigen Haare reichten bis zu den Ohrläppchen. Mit meinem Körper war ich jedoch hochzufrieden, der war durchtrainiert. Vielleicht gehörte ich ja einer Kampfsportschule an?
Leider blieb es beim Rätselraten.
Der Duschstrahl prasselte mir auf Kopf und Schultern. Im Stillen dankte ich Bobbie für Seife und Shampoo und überlegte, dass ich dringendst ein paar Einkäufe erledigen musste. Ein paar preiswerte Kleidungsstücke. Und eine Zeitung! Wenn ich ein Verbrecher auf der Flucht war, hatte das bestimmt Schlagzeilen gemacht. GESUCHT: BOY 7. Warum eigentlich nicht einfach Seven? Oder war das zu lang für so ein Etikett?
Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke: Auch in einem Irrenhaus wurde Kleidung natürlich gekennzeichnet!
Es war schon ziemlich irre, das Gedächtnis zu verlieren. Genauso gut konnte ich schon Monate in einer Anstalt verbracht haben und heute aus irgendeinem Grund einfach aus dem Tor spaziert sein ...
Aber wie war ich dann auf dieser einsamen Grasebene gelandet? Und weshalb konnte ich mich an alles, was seither passiert war, sehr wohl erinnern?
Der Specht hatte sich nur eine Pause gegönnt, er begann wieder zu hämmern.
Ich drehte den Wasserhahn zu. Nicht grübeln. Einkaufen gehen. Selbst in Branding würde es vermutlich Paracetamol geben.
Lara hatte mir die elastische Binde aus dem Verbandskasten gegeben. Ich wickelte sie um meinen Knöchel und zog meine feuchte Socke wieder darüber. Saubere Socken, die mussten auch auf die Liste. Und eine Landkarte, damit ich bestimmen konnte, wo ich war und wohin ich wollte. Mit den Anhaltspunkten, die ich hatte, konnte ich eine Strecke festlegen ...
Welche Anhaltspunkte?, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.
Klappe!
Ich stopfte das Geld in die Hosentasche zurück. Hemd an. Schuhe. Wenn ich die Schnürsenkel fest genug zurrte, tat mein Knöchel kaum noch weh.
Wie spät war es eigentlich? Ich warf einen Blick auf mein Handy. Fast sechs! Wenn ich Pech hatte, war heute Samstag und die Geschäfte hatten schon zu. Ich hatte wenig Lust, bis Montag in denselben Boxershorts zu stecken. Los jetzt!
Ich verschloss das Zimmer und nahm die Treppe nach unten. Bobbie wusste genau, was ihre Gäste brauchten: In der Diele hing ein Kalender. Mittwoch! Da waren die meisten Geschäfte bis 22 Uhr geöffnet. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass Bobbie auch brav jeden Tag ein Blatt abriss.
Im Garten traf ich Lara.
»Tee?« Sie hob vielsagend die Augenbrauen.
Nein, den
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