Die Erbin
Sie schrie: »Nein! Nein! Nein!«, trommelte mit den Fäusten auf die Tischplatte, saß dann wieder stumm, unbeweglich und starrte auf einen hölzernen, vergoldeten Wandleuchter, sprang plötzlich auf, umkreiste den Tisch mit schnellen, plumpen Schritten, blieb abrupt stehen und sagte mit ganz leiser, fast kindlicher Stimme: »Das ist nicht wahr. Das alles ist eine infame Lüge! Ihr wollt mich vernichten! Ihr seid nur neidisch, weil ich so glücklich bin! Ihr gönnt mir nicht das bißchen Luft, um zu atmen! Alles ist Lüge, alles …«
Sie kam um den Tisch herum, setzte sich wieder und zerwühlte mit beiden Händen ihre seit Tagen nicht gepflegten halblangen, strähnigen Haare. Es sah hilflos aus, armselig, hoffnungslos. Niemand antwortete ihr. In einer Ecke des sonnendurchfluteten Gartenzimmers, von dem der Blick über eine säulengestützte Terrasse in den Park mit Zedern, Pyramidenzypressen, Eukalyptusbäumen und Rosenhecken fiel, auf englisch geschnittenen Rasen, einen blaugekachelten Swimming-pool, eine weiße Gartenhalle mit Korbmöbeln und einen runden Teepavillon, saß in einem mit Brokat überzogenen Sofa eine kleine, schmächtige, spitznasige Frau in einem geblümten Morgenrock. Die grauen Haare hielt ein einfaches rotes Stretchband zusammen. Die Füße steckten in Seidenpantoffeln und wippten hin und her. Um den Hals trug die Dame eine lange Kette: grauschwarze Perlen mit dem matt schimmernden Lüster, der den Preis bestimmte. Der Wert jeder dieser Perlen entsprach dem Jahresgehalt eines griechischen Hafenarbeiters. Mit unruhigen Fingern schlang die Dame die Perlenkette um ihre Hand, entwirrte sie wieder, ließ sie wie einen Rosenkranz durch die Finger gleiten und drückte sie wieder zu einem Knäuel zusammen. Aber sie schwieg.
In einem Sessel nahe der Tür zur Terrasse hockte ein jüngerer Mann im weißen Sommeranzug und blätterte nervös in einem Schnellhefter. Ein anderer Mann saß am Tisch, vor sich eine offene Aktenmappe, und trank aus einem hohen, von der Kälte der Eisstückchen beschlagenen Glas Orangensaft.
»Ich liebe ihn!« sagte sie laut in die quälende Stille hinein. »Nichts weiter. Ich liebe ihn! Das kann mir keiner verbieten! Du nicht, Tante Andromeda, du erst recht nicht, Tyron, die ganze Familie nicht! Auch keiner meiner Direktoren – eher werfe ich sie alle hinaus! – und erst recht nicht das, was man die ›öffentliche Meinung‹ nennt! Ich pfeife auf diese Meinung! Ich lebe mein Leben! Und zum erstenmal im Leben liebe ich wirklich. Zum erstenmal bin ich glücklich! Zum erstenmal seit Vaters Tod weiß ich, was Geborgenheit ist. Ihr habt euch nie um mich gekümmert. Ihr habt immer gesagt: Das Kind hat alles, was es will! Puppen mit Dior-Kleidern! Reitponys! Als Geschenk des Königs von Saudi-Arabien eine Jacht, die schönste und größte der Welt. 16 Millionen Dollar hat sie gekostet, 2,6 Millionen jährlich kostet ihr Unterhalt. Wenn wir einkaufen wollten, in Paris oder Monte Carlo, in Rom oder London – ich hatte meinen eigenen Jet! Ich hatte Professoren als Hauslehrer und die besten Skilehrer von St. Moritz. Ich brauchte nur etwas anzusehen, schon gehörte es mir. Aber nie, nie – hört ihr alle?! –, nie hatte ich das, was man zum wirklichen Glück braucht: ein echtes Elternhaus. Die berühmte Nestwärme! Was war das für ein Leben! Papa war immer unterwegs, Mama auch. Vom Stadthaus in New York wurden wir in die Wohnung nach Paris geschickt. Dann ging es weiter nach Athen, später nach Sapharin, von dort in das Schloß an die Riviera, schließlich nach Monte Carlo oder in die Schweiz. Überall und nirgends – das war mein Zuhause! Die meiste Zeit verbrachte ich auf der Jacht und in meinem Rolls-Royce. Aber jetzt, jetzt habe ich ein Zuhause! Endlich! Endlich!«
»In Moskau!« sagte Andromeda Lakadonis, die Tante. »Eine Zweizimmerwohnung in einem Wohnblock!«
»Ein Paradies!« Sie ballte die Fäuste und schüttelte sie wie wild. »Ein Paradies gegen das, was hinter mir liegt! Ich weiß endlich, daß mich ein Mensch liebt!«
sse«, sagte der Mann im Sessel. Er hieß Tyron Spiriades, war fünfunddreißig Jahre alt und Direktor des Konzerns. »Ein Russe! Ja, ein Russe. Mein ›kleiner Russe‹! Ist ein Russe für euch kein Mensch?!«
»Wenn du wenigstens einen Blick in das Material werfen würdest«, sagte Tante Andromeda.
»Warum? Warum?« Sie trommelte wieder auf den Tisch und warf den Kopf vor und zurück. Es sah hysterisch aus, aber es war nichts als helle
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