Der Falke von Aryn
Ein später Gast
1 Als der ungesehene Gast das Arbeitszimmer des hageren Mannes betrat, stand dieser am Fenster und schaute auf den nächtlichen Garten hinaus.
»Ihr seid unvorsichtig, Herr«, stellte der späte Gast fest und legte seinen breitkrempigen Hut auf einen der Sessel ab. »Ihr habt die Tür unverschlossen gelassen.«
»Seht es als eine Form der Höflichkeit«, antwortete der hagere Mann, bevor er sich seinem Gast zuwandte und ihn mit einer Geste aufforderte, in einem der Sessel Platz zu nehmen.
Wie üblich lehnte der Angesprochene mit einem leichten Kopfschütteln ab.
»Ihr habt Neuigkeiten für mich?«
»Ihr Vertrag wird nicht verlängert, und man hat sie für die nächsten Wochen vom Dienst freigestellt. Sie wurde letzte Woche verwundet, das hat als Vorwand wohl genügt.«
»Verwundet?«, fragte der hagere Mann erschrocken. »Wie schlimm ist es?«
Sein Gast tat die Frage mit einer nachlässigen Geste ab. »Ein Kratzer, nicht mehr.«
Der Hagere entspannte sich ein wenig. »Diesmal«, sagte er leise. »Diesmal ist es nur ein Kratzer.« Einen langen Moment herrschte Schweigen in dem abgedunkelten Arbeitszimmer. »Was noch?«
»Sie hat eine Passage mit dem nächsten Kurierschiff nach Aryn gebucht.«
Ein Seufzen war zu vernehmen. »Es war abzusehen, dass sie irgendwann dorthin zurückkehren wird.«
Der andere straffte seine breiten Schultern und nickte langsam. »Ihr denkt, dass sie den Mörder ihrer Mutter suchen wird?«
Ein knappes Nicken. »Folgt ihr dorthin. Haltet Euch bereit, wenn sie ihn findet.«
»Es ist über zwanzig Jahre her«, gab sein Gast zu bedenken. »Selbst mir ist das damals nicht gelungen.«
Der hagere Mann schaute zu ihm hinüber. »Ich hege allerhöchsten Respekt für Euch und Eure Fähigkeiten, mein Freund«, sagte er bedächtig. »Aber Ihr seid nicht sie. Sie wird ihn finden. Aber das ist nicht der Grund, warum ich Euch nach Aryn senden werde.«
Es war nicht leicht, seinen Gast zu überraschen, aber diesmal war es dem Hageren gelungen. Auch wenn der Breitschultrige nur einmal blinzelte.
»Warum dann?«
»Man plant dort eine Rebellion.«
»Eine Rebellion? In Aryn?«
»Ja. Meine Quellen berichten mir davon, dass man dort einen Aufstand plant.«
»Warum lasst Ihr sie dann dorthin gehen?«
Sein Gastgeber schnaubte ungläubig. »Meint Ihr wahrhaftig, ich könnte sie davon abhalten?«
Der breitschultrige Mann nickte langsam. So, wie er die Majorin kannte, war das in der Tat unwahrscheinlich. »Dennoch …«
»Ich kann sie nicht daran hindern, ihrem Schicksal zu folgen. Es ruft sie nach Aryn, schon bevor sie geboren wurde«, meinte der Gastgeber mit einem traurigen Lächeln. »Einmal versuchte ich schon, dagegen anzugehen, Ihr wisst, wohin es führte.« Er schluckte schwer. »Seht zu, dass es sich diesmal so nicht wiederholt.«
Der breitschultrige Mann nickte und griff nach seinem Hut. »Ihr habt bezahlt dafür.«
Ankunft in Aryn
2 Der Hafen von Aryn, dachte Lorentha grimmig, während das Lotsenboot das angeschlagene kaiserliche Kurierschiff Morgenbrise langsam zu seinem vorbestimmten Anlegeplatz schleppte. So viele schlechte Erinnerungen banden sie an diesen Ort, und nur so wenig gute. Ein kühler Wind von See her ließ sie frösteln, und sie zog ihren Umhang enger um sich, obwohl es nicht die Kälte war, die sie frieren oder ihr den Magen krampfen ließ. Hätte sie den Ort nie wieder gesehen – selbst das wäre zu früh gewesen!
Wenngleich es schon nach Sonnenuntergang war, herrschte hier noch immer Betrieb, und durch den Wald der Masten konnte sie die Laternen der Schiefen Bank sehen, wo sich Hurenhäuser und Tavernen dicht an dicht reihten.
Tagsüber bot sich ein anderes Bild, das einer wichtigen Handelsstadt, mit unzähligen Kränen, die keinen Stillstand kannten, Ladung löschten oder prall gefüllte Netze in die Frachträume der Schiffe abließen, ein Bild von Reichtum und Wohlstand. Glänzende Kutschen rollten dann über die Hafenpromenade, die sich um das gesamte Hafenbecken zog, brachten reich gekleidete beleibte Herren her, die eifersüchtig darüber wachten, ob ihre Ladung auch gut und unversehrt angekommen war, um dann in den zahllosen Kontoren und Lagerhäusern im West- und Südteil des Hafens zu verschwinden, während Hunderte Hafenarbeiter schwitzten und sich den Rücken buckelig schufteten, um für einen kargen Lohn die Taschen der Reichen zu füllen.
Doch kaum war die Sonne untergegangen, wandelte sich das Bild. Wer dann noch im Hafen
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