Brennende Kontinente
Prolog
Kontinent Kalisstron, Bardhasdronda, Spätherbst im Jahr i Ulldrael des Gerechten (460 n.S.) Die Bleiche Göttin beschütze ihn.« Jarevrän blickte dem Schiff hinterher, dessen Segel zwischen dem dunkelgrauen Himmel und den sich auftürmenden Wellen klein und verloren aussahen. Es wirkte wie eines der Spielzeugboote aus Holzplättchen und dünnen Pergamentsegeln, mit denen sich die Kinder am Strand die Zeit vertrieben. Klein, zerbrechlich, ausgeliefert.
Der Sturm sandte eisige, salzige Gischtschleier gegen die junge Frau, die immer dann entstanden, wenn die mächtigen Wogen mit ungestümer Kraft gegen die Hafenmauer trafen. Sie hörte das dumpfe Rumoren der Wassermassen und bildete sich ein, die Erschütterungen im Boden zu spüren. Es war aber wohl eher die Sorge um ihren Mann, die ihr das Beben unter den Füßen vorgaukelte.
»Sie wird ihn beschützen.« Fatja, in mehrere Lagen aus Kleidern gehüllt, trat neben sie und legte ihr einen Mantel um die Schultern; die dünne Wolldecke war schon lange durch‐nässt. »Mach dir um ihn keine Sorgen. Aber du solltest ins Haus kommen.«
»Nasser kann ich nicht mehr werden«, erwiderte Jarevrän, ohne die grünen Augen von dem Schiff zu nehmen, so als könnten ihre Blicke es vor dem Kentern bewahren. Der Segler stürzte in ein Wellental und verschwand. Ihr Herz geriet ins
Stolpern. »Er muss verrückt sein«, wisperte sie.
»Meinst du den Kapitän oder deinen Mann?« Fatja verharrte neben ihr. Die beiden sahen ein wenig aus wie Schwestern. Fatja war die Ältere; ohne die braunen Augen hätte man sie wegen ihrer langen schwarzen Haare für eine Kalisstronin halten können. Tatsächlich war sie eine Borasgotanerin, die sich vor einer ganzen Weile wegen ihrer Liebe zum Geschichtenerzähler Arnarvaten zum Verbleib auf Kalisstron entschieden hatte.
Endlich, endlich erschien die schaukelnde Mastspitze wieder über dem tosenden Meer. Jarevrän atmete auf, doch ihre ineinander verkrampften Hände wollten sich nicht lösen. Die Gefahr war noch lange nicht vorüber. »Sie hätten niemals auslaufen dürfen. Sie haben den ganzen Vormittag gebraucht, um sich diese kleine Strecke vorwärts zu kämpfen, und wenn ich es richtig gesehen habe, ist bereits ein Mast gebrochen.« Jarevrän schluckte, zitterte vor Kälte. »Sage mir, dass ich ihn in meinen Armen halten werde, Fatja. Du bist die Schicksalsleserin. Hattest du eine Vision?«
Fatja legte einen Arm um sie und schwieg.
Die Eindrücke ihrer letzten Hellseherei wollte sie nicht preisgeben, sonst hätte sich Jarevränʺ ohne zu zögern ein Ruderboot genommen und wäre hinter dem Schiff hergefahren. Fatja besaß die Gabe der Hellsicht seit ihrer Kindheit. Mal hasste sie die Bilder, die ihr gezeigt wurden, mal liebte sie es, in die Zukunft zu schauen. Nicht immer stimmten ihre Eindrücke mit dem Kommenden überein, manches Mal entging ihr etwas. Doch das Gesehene gab ihr so manchen Anhaltspunkt und half, sich auf Widrigkeiten vorzubereiten. Einiges von dem, was auf Ulldart geschehen war, hatte sie hellgesehen.
Bei den Qwor, den Ungeheuern, die den Klingenden Steinen entsprungen waren und seitdem durch die Umgebung der Stadt streiften, hatten ihre Visionen allerdings versagt und sie nicht gewarnt. Bis zum heutigen Morgen.
Fatja hatte einen toten Qwor gesehen, der auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Menschen sprangen um ihn herum und freuten sich über seinen Tod. Das bedeutete, dass es die Miliz aus Bardhasdronda schaffen würde, wenigstens eines der Ungeheuer zu vernichten. Was erlösend klang, hatte jedoch einen schwer wiegenden Makel: Sie hatte in all ihrer Begeisterung weder Lorin, der aufgebrochen war, um seinen Halbbruder Tokaro aus Ulldart zu holen, noch den jungen Ritter gesehen. Seither fragte sie sich, wo die beiden jungen Männer nur blieben. Jarevrän schaute sie an. »Warum schweigst du, Fatja?« »Ich habe nachgedacht«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Du hattest demnach eine Vision?« Jarevräns Blick wurde fordernd. »Und du schweigst? Ich bitte dich, sag mir, was du weißt...«
Fatja nahm rasch ihre Hand, und ihre braunen Augen ruhten warm auf ihrer Schwägerin. »Beruhige dich. Es wird sich alles zum Guten wenden. Ich weiß zwar nicht, wie es gelingen wird, diese Kreaturen zu bezwingen, doch ich habe eine davon tot und brennend gesehen«, verriet sie.
»Kalisstra sei Dank! Dann ist die Reise nicht vergebens«, flüsterte Jarevrän erleichtert, und ihre Hände lösten sich. Fatjas Bemerkung
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