Brief in die Auberginenrepublik
Parteimitglieder verraten. Ich überlegte, was ich machen könnte und kam auf eine verrückte Idee. Zwei Tage lang kämpfte ich dagegen an, auf die Toilette zu gehen. Ich wollte nicht, weigerte mich. Sie holten mich ab, fesselten mich und begannen, mich mit dem Offiziersstab überall zu schlagen. Ich musste jetzt nicht mehr gegen den Druck ankämpfen und konnte einfach loslassen. Nach dem siebten, achten oder neunten Schlag gab ich erleichtert auf, zuerst fielen die harten Exkremente, dann wurde es immer weicher. Es stank plötzlich erbärmlich, überall im Büro. Die Verhörpolizisten brüllten: ›Verdammter Mist, er hat sich vollgemacht. Bringt ihn augenblicklich weg von hier!‹ Das war der letzte Tag, an dem sie mich in der Folterkammer gefesselt und gefoltert haben. Seitdem fürchteten sie, dass ich in ihrem Büro noch einmal in die Hosen machen könnte. So endeten meine Untersuchungstage. Meine Scheiße rettete mich. Ich brauchte nicht alles zu sagen, was sie hören wollten. Seit einem Jahr hocke ich hier mit einer einfachen Anklage. Das war unvorstellbar. Ich dachte, sie würden mich hinrichten, wenn sie herausfänden, was ich tatsächlich gemacht habe. Seit dem Tag der Scheiße nennen mich die Wärter und die Verhörbeamten: ›Das religiöse Stinktier‹. Ein Stinktier zu sein, ist an sich kein Drama. Besser, als wenn ich als Leiche enden würde. Oder? Heute ahnte ich nicht, dass sie mich verhören würden. Seit Tagen war ich sowieso nicht auf der Toilette, weil es nichts in meinem Bauch gibt. Wir alle hier sind halb verhungert und abgemagert. Trotzdem half mir mein Hintern wieder. Als sie mich fesselten und bevor sie anfingen, mich zu schlagen, überkam mich unendliche Angst. Ich dachte daran, was geschehen würde, wenn ich alles preisgeben würde und die Wahrheit ans Licht käme? Ich wäre ein toter Mann. Vor Angst habe ich einfach gepupst. Es waren starke, laute Fürze. Und plötzlich riefen alle: ›Verflucht, der ist es wieder! Das religiöse Stinktier. Raus mit ihm!‹ So endete die Folterstunde erneut, bevor sie das Verhör beginnen konnten. Im Ernst, ich zweifle nicht an Gott, ich bin immer ein guter Muslim gewesen, hier aber beginne ich, an die Scheiße zu glauben, sie, die Göttin der guten Taten.«
Wieso wandern meine Gedanken nun wieder zum Gefängnis? Vielleicht, weil ich Samia gestern in meinem Brief – zwischen den Zeilen – davon berichtet habe? Keine Ahnung. Ich will mich jetzt nicht mit Fragen quälen.
Durchs Busfenster schaue ich auf das Mittelmeer. Eigentlich beobachte ich es immer gerne. Heute allerdings kommt es mir langweilig vor. Oft sagte Samia zu mir, wenn wir im Zentrum von Bagdad spazieren gingen und sie den Tigris erblickte, dass sie davon träumt, einmal mit mir am Strand zu liegen und im Meer zu schwimmen, in irgendeinem Meer. Ob wir es jemals schaffen werden, das zu erleben? Ich bezweifle es. Es muss zuerst ein Wunder geschehen, damit wir uns wiedersehen. Und ein weiteres Wunder, damit wir Ruhe, Frieden und genug Geld haben, um reisen zu können wie Touristen. Seit zwei Jahren habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Vorher haben wir uns fast täglich an der Universität getroffen, wo sie Medizin studierte und ich Vergleichende Literaturwissenschaft. Ich habe wirklich vergessen, wie ihr Gesicht aussieht. Nach Jahren in der Fremde verbleichen die alten Bilder aus der Heimat, und die gewohnten kleinen Dinge im Gedächtnis gehen verloren. So ist es eben. Man denkt und erinnert sich nicht mehr an die schönen Augen oder die wilden Haare der Freundin oder der Ehefrau. Man träumt nur noch von einem Zeichen, ob die Geliebte lebt, gesund ist und nicht alles vergessen hat.
Ich erkenne jetzt das große Postgebäude, das am Anfang der Nasserstraße liegt, und rufe: »Aussteigen bitte, stopp!« Kaum ausgestiegen, sehe ich auf der rechten Seite der Straße das Café Al-Sharq – Der Orient.
Es ist ein alter Bau mit einer grün gestrichenen Tür und einem breiten blauen Fenster. Vier Tische mit ungefähr zwanzig Stühlen und mehreren niedrigen Hockern bilden die Ausstattung. Dem Eingang gegenüber, auf einem einfachen Holztisch, stehen ein großer Fernseher und ein Videorekorder. Die Wandfläche über der Theke wird von einem großen Bildnis von Muammar Gaddafi bedeckt, auf dem dieser ernst in die Kamera blickt. Darunter steht: »Der einzige Adler und der Revolutionsführer«.
Ein braungebrannter schmaler Mann von Anfang zwanzig steht vor mir und sagt, als ich ihn nach Malik frage:
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