Brief in die Auberginenrepublik
Die Erde ist schon immer oval gewesen, wie ein Ei, und sie steht still, weil sie nicht haltlos in der Leere schwebt, sondern auf die Hörner eines Ochsen gespießt steckt. Die vier Beine des Ochsen stehen fest verankert in der Tiefe des unendlichen Weltalls. Eines seiner Hinterbeine ruht im Paradies, das andere brennt in der Hölle. Von den beiden vorderen Hufen steht einer im Wasser der Schöpfung und einer im Feuer Satans. Die Seite des Erdeneis, die sich dem Wasser der Schöpfung und dem Paradies zuwendet, ist mit Wohlbehagen und Frieden gesegnet und befindet sich in einem Zustand dauerhaften Glücks. Die andere Hälfte hingegen, die über der Hölle und dem Feuer Satans steht, kocht im Fegefeuer von Diktaturen, Krieg und Armut.
Hin und wieder jedoch wechselt der Weltenochse seine Beinstellung, und dies hat fatale Folgen für das Weltenei: Es gerät aus dem Gleichgewicht, und jede Schwankung erzeugt immer wieder neue Zeitalter und Epochen. Aus diesem fiebrigen Zustand des Eis schlüpft die Menschheitsgeschichte, die eine immer wiederkehrende Entwicklung erfährt: Zuerst erlebt die eine Seite der Erde – die Hälfte der Menschheit – Wohlstand, dann aber folgt tiefe Dunkelheit. Es ist, wie Nietzsche sagen würde, eine ewige Wiederkehr des Immergleichen: Die Geschichte verläuft nicht linear, sondern im Teufelskreis einer wechselnden Abfolge angenehmer und unerträglicher Ereignisse.
Dank der Weisheit des Heiligen Ochsen waren jedoch das Lachen und das Weinen in der Welt gerecht unter den Menschen verteilt – bis vor einigen Jahrzehnten der Ochse plötzlich in seiner Beinstellung erstarrte. Seitdem steht die Welt still. Für die Menschen, die zuvor in der Dunkelheit lebten, währt diese weiter fort, während die anderen weiterhin in vollem Licht und Glanz stehen. Und niemand im Universum weiß, warum der Ochse sich nicht mehr bewegt …
Auf der dunklen Seite des Eis beginnt die Geschichte eines Briefes, die ich Euch erzählen will. Sie spielt in Afrika und in Asien. Genauer: in Arabien. Ganz genau gesagt, beginnt sie in Libyen und endet im Irak. Und um mikroskopisch exakt zu sein, spielt sie in diesen armen Ländern in den allerdunkelsten Gegenden: den Stadtvierteln Gaddafi City in Bengasi und Saddam City in Bagdad.
Erstes Kapitel
Salim Al-Kateb, 27 Jahre alt, Bauarbeiter
Freitag, 1. Oktober 1999
Bengasi, Libyen
Das elendige, von armen Einheimischen und Ausländern bevölkerte Viertel Ras Ebeda, das man hier spöttisch »Gaddafi City« nennt, schläft tief unter der Decke der schwülen Hitze. Es ist der 1. Oktober, und dennoch sieht alles aus wie in einem Dampfbad. Als ich die Hauptstraße erreiche, die nur dreihundert Meter von meinem Haus entfernt liegt, sticht mir die Hitze bis in die Knochen. Die Bushaltestelle steht mitten in der Sonne, ohne Mauer oder Dach. Um mich herum gibt es nur leere Straßen und geschlossene Geschäfte. Nichts bewegt sich, allein der Wind lässt den Staub und einige am Straßenrand liegende Zeitungsfetzen, Zettel und Plastiktüten hochfliegen.
Dieses Wetter verwandelt Bengasi zur Zeit der Mittagsruhe in eine Geisterstadt. Fast alle Menschen sitzen daheim in ihren Wohnungen, genießen die kühle Luft der Klimaanlage, halten Mittagsschlaf und glotzen ägyptische und syrische Seifenopern. Seit die Regierung Satelliten erlaubt hat, machen die Leute hier nichts anderes, als die Welt auf dem Bildschirm zu entdecken.
Endlich, ein weiß-blauer Bus taucht auf. Der Fahrer fährt langsam, hält an und ruft: »Stadtmitte, Strandpromenade. Schnell!« Ich steige ein und setze mich auf einen der hinteren Plätze. Außer mir gibt es noch acht weitere Fahrgäste. Die klimatischen Verhältnisse im Inneren des Busses gleichen einer libyschen Bäckerei. Alles riecht nach Fett und nach Schweiß. Die Klimaanlage funktioniert nicht, und ich bin bereits nach kurzer Zeit schweißgebadet. Keiner sagt etwas. Wieso eigentlich? Normalerweise plaudern die Menschen hierzulande gern. Stau gibt es zum Glück keinen. Der Bus fährt trotzdem so langsam, als würde er behutsam auf Eiern rollen. Bis ich die Nasserstraße erreiche, wird es bestimmt ein Weilchen dauern. Doch ich bin nicht weit vom Ziel entfernt.
Unfassbar, dass es nur noch wenige Minuten dauern wird, bis ich den Brief abschicken kann und darf. Zwei Jahre habe ich warten müssen. Seit zwei verdammten Jahren träume ich davon, eine Möglichkeit zu finden, ihn in einen Briefumschlag zu stecken und »Adieu« zu sagen.
Die letzten beiden Tage habe
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