Brief in die Auberginenrepublik
wieder dran sein. Ich habe veranlasst, dass sie für ein paar Tage auf die Seite gelegt wird. Bald sucht man dich wieder. Du solltest sofort ins Ausland gehen. Ich habe alles für deine Flucht organisiert.«
Eine Stunde später nahmen mich zwei kurdische Männer mit. Ich musste mich in ihrem Lastwagen verstecken, fast zwanzig Stunden lang. Solange dauerte die Fahrt gen Norden bis an die Grenze zu Syrien. Mit einem Boot ruderten wir über den Grenzfluss Euphrat, und einige Minuten später befand ich mich nicht mehr im Irak. Auf syrischer Seite empfingen mich Iraker und ein paar syrische Polizisten. Mit einem Jeep fuhren wir bis in die Stadt Kamischli. Dort gaben mir Mitglieder der irakischen Kommunistischen Partei einen gefälschten Pass und schickten mich weiter nach Damaskus. Doch in Syrien wollten sie mich nicht behalten: Ich musste das Land verlassen und bis nach Libyen weiterfahren. Die Leute in Damaskus sagten: »Keiner kommt nach nur einer Woche aus dem Knast. Verschwinde schleunigst nach Libyen! Damaskus wird gefährlich für dich, weil viele einen Maulwurf in dir vermuten werden. Und durch den Ruf deines Onkels bist du hier sowieso nicht willkommen.«
Nichts davon verstand ich. Ich kam mir vor wie ein Ball, der hin und her geworfen wird. Innerhalb weniger Tage hatte sich mein ganzes Leben verändert. Das ist meine Geschichte, sie ist kurz, zugleich aber auch sehr lang. Nur zehn Tage meines Lebens, in denen ich alles verloren habe: meine Familie, meine Heimat, meine Freundin, mein Studium und meinen Ruf. Und jetzt hocke ich in Nordafrika, arbeite auf der Baustelle und versuche zu überleben. Mein Traum ist, eine Möglichkeit zu finden, einen Brief an Samia zu schicken und ihr zu berichten, dass ich kein Verräter bin, noch lebe und sie nicht vergessen habe.
Endlich aber gibt es eine Lösung. Oder es scheint mir zumindest so, als wäre eine Lösung greifbar. Vor einigen Tagen besuchte ich das Café Tigris, in der Nähe des Midan Al-Schajare – des Baum-Platzes – im Zentrum, das einzige Café in Bengasi, dessen Besitzer ein Iraker ist. Hier werden den ganzen Tag traurige südirakische Lieder gespielt, treffen sich viele irakische Arbeiter und trinken den irakischen Tee, der so schwarz und bitter wie das Herz der Politiker unseres Landes ist. Sie beschweren sich rund um die Uhr über die Politik in ihrer Heimat und über das langweilige Leben in Libyen. Mir kam in diesem einzigartigen »Tigris« zu Ohren, es gäbe einen guten neuen Friseur in der Stadt. Er sei auch Iraker, und ich bekam die Idee, mir von ihm die Haare schneiden zu lassen.
Der junge Jafer bestätigte alle Vorurteile über Friseure. Er schwatzte ohne Punkt und Komma, wie ein Radio auf zwei Beinen, ein Wasserfall aus Gerede, Gerüchten und Nachrichten. Als er mich nach dem Befinden meiner Familie in Bagdad fragte, entgegnete ich, dass ich keinerlei Ahnung hätte. Bei meinen Angehörigen gäbe es keinen Festnetzanschluss, und selbst wenn, ich könnte sie nicht anrufen, wegen der Überwachung! Briefe verschicken oder auch empfangen sei ebenso unmöglich. Jafer verstand sofort, schließlich stammte er nicht vom Mars oder aus Luxemburg. Er behauptete, es bestünde eine Möglichkeit, Kontakt mit der Familie im Irak herzustellen.
»Ziemlich kompliziert«, meinte er. »Man erzählt sich, es gibt in der jordanischen Hauptstadt einige irakische Lastwagenfahrer, die ständig zwischen Bagdad und Amman unterwegs sind.« Seit dem Handelsembargo von 1991 sei Amman die einzige Stadt, von der man noch etwas in den Irak transportieren könne. Die Fahrer lieferten illegal auch Briefe der Exilanten von Amman nach Bagdad. Auch Antwortpost der Angehörigen aus Bagdad könne von denselben Fahrern nach Amman mitgenommen werden. »Früher wusste ich auch nicht, wie man an diese Lastwagenfahrer herankommen kann. Sie fürchten sich natürlich auch, von der Sicherheitspolizei erwischt zu werden. Die einzige Möglichkeit ist, jemanden aufzutreiben, der einen dieser Fahrer kennt. Und ich kenne so einen Mann.«
»Amman? Das ist in Jordanien! Wir sind hier in Nordafrika!«
»Im Exil gibt es für jedes Rätsel eine Lösung. Vor kurzem habe ich von einem Libyer in Bengasi namens Malik Gaddaf-A-Dam gehört. Er besitzt im Zentrum ein Reisebüro, das Al-Amel – Hoffnung – heißt. Deine Hoffnung kann nur in diesem Reisebüro erfüllt werden. Malik arbeitet auch als Briefmanager und hat Kontakte zu den Lastwagenfahrern. Die Briefe werden mit Sammeltaxis in ein Reisebüro in
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