Brunetti 02 - Endstation Venedig
herumliegen.«
»Glauben Sie, daß es um Drogen geht, Commissario?«
Brunetti trank seinen Espresso aus und bedeutete dem Barmann, ihm einen zweiten zu bringen. Ohne die Antwort abzuwarten, schüttelte Vianello rasch verneinend den Kopf, aber Brunetti sagte: »Ich weiß nicht, möglich wäre es. Uberprüfen wir das also als erstes.«
Vianello nickte und schrieb in sein Notizbuch, bevor er es in die Brusttasche steckte und nach seinem Portemonnaie griff.
»Nein, nein«, meinte Brunetti. »Das übernehme ich. Gehen Sie zum Boot und rufen Sie wegen der Taucher an. Und lassen Sie Ihre Leute Sperren aufstellen. Die Zugänge zum Kanal müssen abgesperrt werden, solange die Taucher arbeiten.«
Vianello bedankte sich mit einem Kopfnicken für den Kaffee und ging. Durch die beschlagenen Fenster der Bar sah Brunetti dem Treiben auf dem Campo draußen zu. Er beobachtete, wie die Leute von der Hauptbrücke kamen, die zum Krankenhaus führte, die Polizei zu ihrer Rechten sahen und dann die Umstehenden fragten, was los sei. Die meisten blieben stehen und schauten von den dunkel Uniformierten, die immer noch herumliefen, zu der Polizeibarkasse, die am Rand des Kanals schaukelte. Dann, nachdem sie absolut nichts Besonderes feststellen konnten, gingen sie weiter ihren Beschäftigungen nach. Der alte Mann lehnte immer noch an dem eisernen Geländer. Selbst nach all den Jahren Polizeiarbeit konnte Brunetti nicht verstehen, wie Menschen sich so willig in die Nahe des Todes ihrer Artgenossen begaben. Es war ein Rätsel, das er nie hatte lösen können, diese schreckliche Faszination der Endlichkeit des Lebens, besonders wenn sie gewaltsam war wie hier.
Er wandte sich wieder seinem zweiten Espresso zu und trank ihn rasch. »Wieviel?« fragte er.
»Fünftausend Lire.«
Brunetti zahlte mit einem Zehner und wartete auf sein Wechselgeld. Als der Barmann es ihm reichte, fragte er: »Etwas Schlimmes?«
»Ja, etwas Schlimmes«, antwortete Brunetti. »Etwas sehr Schlimmes.«
2
Die Questura lag so nah, daß es für Brunetti einfacher war, zu Fuß zu gehen, als mit den Uniformierten in der Polizeibarkasse zurückzufahren. Er ging hintenherum, an der evangelischen Kirche vorbei, und näherte sich von rechts dem Gebäude der Questura. Der Polizist am Haupteingang öffnete die schwere Glastür, sobald er ihn sah, und Brunetti ging zu der Treppe, die zu seinem Büro im vierten Stock führte, vorbei an der Schlange von Ausländern, die um eine Aufenthaltsgenehmigung oder Arbeitserlaubnis anstanden. Die Schlange reichte durch die halbe Halle.
In seinem Büro angelangt, fand er seinen Schreibtisch so vor, wie er ihn tags zuvor verlassen hatte, bedeckt mit Papieren und Akten in nicht erkennbarer Ordnung. Der nächstliegende Stapel enthielt Personalbeurteilungen, die er als Teil des byzantinischen Verfahrens, das alle Staatsdiener zwecks Beförderung zu durchlaufen hatten, sämtlich lesen und kommentieren mußte. Ein anderer Stapel enthielt die Unterlagen zum letzten Mordfall in der Stadt, diesem brutalen, irrwitzigen Totschlag an einem jungen Mann, der sich vor einem Monat an der Uferbefestigung Le Zattere ereignet hatte. Das Opfer war so brutal zusammengeschlagen worden, daß die Polizei es erst für das Werk einer Gang gehalten hatte. Statt dessen hatten sie nach nur einem Tag herausgefunden, daß der Mörder ein schmächtiges Bürschchen von sechzehn Jahren war. Das Opfer war homosexuell gewesen, und der Vater des Mörders ein bekannter Faschist, der seinem Sohn eingetrichtert hatte, daß Kommunisten und Schwule ein Ungeziefer seien, das nur den Tod verdiente. So waren diese beiden jungen Männer in der Frühe eines strahlenden Sommermorgens am Ufer des Giudecca-Kanals in einer tödlichen Flugbahn aufeinandergetroffen. Niemand wußte, was zwischen ihnen vorgefallen war, aber das Opfer war derart zugerichtet, daß man der Familie das Recht verweigerte, die Leiche zu sehen, die ihnen in einem versiegelten Sarg übergeben wurde. Das Stück Holz, mit dem er zu Tode geprügelt und gestochen worden war, lag in einem Plastikkasten in einem Aktenschrank im zweiten Stock der Questura. Es blieb wenig zu tun, außer darauf zu achten, daß die psychiatrische Behandlung des Mörders fortgeführt wurde und er bis zur Verhandlung unter Hausarrest blieb. Eine psychiatrische Behandlung für die Familie des Opfers sah der Staat nicht vor.
Statt sich an seinen Schreibtisch zu setzen, zog Brunetti eine Schublade auf und nahm einen elektrischen Rasierapparat
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