Brunetti 02 - Endstation Venedig
heraus. Beim Rasieren stand er am Fenster und blickte hinaus auf die Fassade von San Lorenzo, die immer noch, wie in den vergangenen fünf Jahren, mit einem Gerüst umgeben war, hinter dem angeblich eine umfassende Restaurierung stattfand. Er hatte keinen Beweis, daß dies geschah, denn nichts hatte sich in all den Jahren verändert, und das Hauptportal der Kirche blieb ewig geschlossen.
Sein Telefon klingelte, die direkte Leitung nach draußen. Er sah auf die Uhr. Neun Uhr dreißig. Das waren sicher die Aasgeier. Er schaltete den Rasierapparat aus und ging an seinen Schreibtisch hinüber, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Brunetti.«
»Buon giorno, Commissario. Hier ist Carlon«, sagte eine tiefe Stimme, um sich dann noch unnötigerweise als Polizeireporter des Gazzettino vorzustellen.
»Buon giorno, Signor Carlon.« Brunetti wußte, was Carlon wollte, ließ ihn aber fragen. Dank Carlons Berichterstattung über den letzten Mordfall war das Privatleben des Opfers bloßgestellt worden, und Brunetti war immer noch sehr erbittert darüber.
»Sagen Sie mir etwas über den Amerikaner, den Sie heute früh aus dem Rio dei Mendicanti gezogen haben.«
»Herausgezogen hat ihn der Kollege Luciani, und wir haben keinen Beweis dafür, daß es ein Amerikaner war.«
»Ich nehme alles zuriick, Dottore«, sagte Carlon mit einem Sarkasmus, der aus der Entschuldigung eine Beleidigung machte. Als Brunetti nicht reagierte, fragte er: »Er wurde ermordet, oder?« Dabei machte er keinen Hehl aus seiner Freude über diese Möglichkeit.
»Es sieht so aus.«
»Erstochen?«
Wie kamen die nur zu ihren Informationen? Und auch noch derart schnell. »Ja.«
»Ermordet?« wiederholte Carlon in bemüht geduldigem Ton.
»Das letzte Wort darüber kann erst gesprochen werden, wenn wir die Ergebnisse der Autopsie haben, die Dottor Rizzardi heute nachmittag vornehmen wird.«
»Hatte die Leiche eine Stichwunde?«
»Ja.«
»Aber Sie sind nicht sicher, ob diese Stichwunde die Todesursache war?« Carlons Frage endete mit einem ungläubigen Schnauben.
»Nein, das sind wir nicht«, antwortete Brunetti ausdruckslos. »Wie schon gesagt, nichts ist sicher, bevor wir das Ergebnis der Autopsie haben.«
»Gab es andere Anzeichen für Gewalt?« fragte Carlon, unzufrieden mit den dürftigen Auskünften.
»Nicht vor dem Autopsiebericht«, wiederholte Brunetti.
»Wollen Sie mir als nächstes erzahlen, daß er auch ertrunken sein könnte, Commissario?«
»Signor Carlon«, sagte Brunetti, dem es langsam reichte, »wie Sie sehr wohl wissen, würde er, wenn er auch nur kurz im Wasser eines unserer Kanäle gewesen wäre, eher an einer Seuche gestorben als ertrunken sein.« Am anderen Ende herrschte Schweigen. »Wenn Sie mich bitte heute nachmittag anrufen wurden, gegen vier. Dann gebe ich Ihnen gern etwas genauere Informationen.«
»Vielen Dank, Commissario. Das tue ich bestimmt. Ach ja - wie hieß dieser Kollege noch?«
»Luciani, Mario Luciani, ein vorbildlicher Polizist.« Das waren sie alle, wenn Brunetti der Presse gegenüber von ihnen sprach.
»Vielen Dank, Commissario. Ich werde es erwähnen. Und ganz bestimmt erwähne ich in meinem Artikel Ihre Kooperation.«
Ohne weitere Umstände legte Carlon auf.
Früher war Brunettis Verhaltnis zur Presse relativ freundlich gewesen, manchmal sogar mehr als das, und zuweilen hatte er die Presse sogar eingespannt, um Informationen über ein Verbrechen herauszukitzeln. Aber in den letzten Jahren hatte die immer höher schlagende Welle von Sensationsjournalismus jeden Umgang mit Reportern verhindert, der mehr als rein formal war; denn jede Vermutung, die er äußerte, wurde anderntags garantiert als mehr oder weniger direkte Schuldzuweisung veröffentlicht. Darum war Brunetti vorsichtig geworden und gab nur noch sehr begrenzt Auskunft, wobei die Reporter immer sicher sein konnten, daß diese stimmte.
Er merkte, daß er eigentlich nichts weiter tun konnte, bevor er nicht etwas über die Herkunft der Fahrkarte in der Tasche des Toten gehört oder den Autopsiebericht bekommen hatte. Die Leute in den Büros unten waren damit beschäftigt, die Hotels durchzutelefonieren, und würden ihm Bescheid sagen, wenn sie irgend etwas in Erfahrung brachten. Demnach konnte er nichts tun, als weiter Personalbeurteilungen zu lesen und abzuzeichnen.
Eine Stunde später, kurz vor elf, summte seine Gegensprechanlage. Schon als er den Hörer abnahm, wußte er nur allzugut, wer es war. »Ja, Vice-Questore?«
Etwas überrumpelt ob
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